„Die Deutschen geben doch nie auf“

Die Münchner zogen heftig am Reißverschluß des festen AC-Gewandes, aber ganz bekamen sie es beim 2:1 nicht auf: Mit dem Meister flogen auch die anderen Bundesligisten gegen italienische Klubs aus dem Rennen  ■  Aus München Ch.Keil

„Nun gute Nacht! Das Spiel zu enden / Begrüßt uns mit gewognen Händen.“ Jawohl, es sei: Tiefe Verneigung vor dem FC Bayern München, 2:1-Sieger über die Associazione Calcio Milan, über das derzeit beste Team der Welt. Sagt Trainer Jupp Heynckes. Da ist die Mittwoch nacht bereits verstrichen, die erste Stunde des neuen Tages längst angebrochen. Was er sagt, sagt er gefaßt, aber mit hörbarer Trauer in der Stimme: „Es hat sich bestätigt, daß Milan zu packen ist.“ Was das nütze, fragt sich Heynckes schließlich selbst, da doch die Arithmetik des Europapokals den grausamen Maßstab erhebt, daß auswärts erzielte Treffer doppelt zählen. Und den Bayern gelang vor 14 Tagen beim 0:1 keines, kurz: Milan steht im Finale von Wien, als Gegner von Benfica Lissabon.

Allseits bekannt ist ja das Drängen von Manager Uli Hoeneß, diese begehrteste Trophäe für Vereinsmannschaften auf dem Kontinent zu erobern. Wie eben zwischen 1974 und '76 in der Ära Ma-Be-Mü, der von Maier, Beckenbauer und Müller - auch Hoeneß gehörte dazu. Es war die 101. Minute am Mittwoch, in der jener stets vorsommernächtliche Traum wieder einmal zerronn. 72.000 Menschen im Olympiastaion konnten gar nicht so schnell gucken, wie der eingewechselte Stefano Borgonovo in dieser ersten Hälfte der Verlängerung frei vor Raimund Aumann in den Besitz der vom Dauerregen glitschigen Lederkugel gelangte und mit feinem Heber die Führung der Bayern durch Strunz egalisierte. Heynckes beteuerte heftig, eine Abseitsposition erkannt zu haben, als der Ball nach einem Preßschlag in die falsche Richtung flog. Seine Spieler wußten das nicht so genau, aber ein jeder mit Bestimmtheit, dies sei ein dummes Tor gewesen und Milan vom Glück verfolgt.

Pech und Glück - als strapazierte Argumente vor allem der Unterlegenen mußten beide Vokabeln am Ende herhalten, um zu erklären, was niemand so recht verstand. Wie war es denn überhaupt möglich, daß der bundesdeutsche Meister gegen den italienischen hatte führen können? Wie, daß er zweimal den Ball im Gehäuse von Giovanni Galli hatte unterbringen können? Und Chancen besaß, den zu ihren gunsten entscheidenden Treffer zu erzielen?

45 Minuten lang lieferte der AC den Beweis, daß sich mit Geld eben doch der Erfolg kaufen läßt. 21 Kicker umfaßt der Kader von Milan. Vier der besten, der Fußball-Grande Gullit, die Mittelfeldrenner Donadoni und Ancelotti fehlten wie Stürmer Simone. Die elf aufgebotenen aber spielten so, als hätte es die Absenten nie gegeben. Wann hat ein Team schon einmal eine derartige Raumdeckung praktiziert? Wie an der Schnur gezogen bewegte sich ein engmaschiges, höchstens 20 Meter breites, ovales Netz über den penibel geschorenen Rasen auf und ab, der von oben einem Billardtisch glich. Heynckes wußte, er hatte etwas gesehen, war perfekt aussah. „Dagegen kannst du ganz, ganz schwer spielen, wenn eine Mannschaft das Feld so eng macht.“ Drei, vier Fußballer mehr schien Milan zu haben, jeder einzelne athletischer, sprintstärker als sein Gegenüber, zudem mit brillanter Technik und Übersicht ausgestattet. Es sind durchaus nicht nur die Niederländer - wobei Kohler van Basten bravourös beschattete -, die der Formation des zierlichen Tainers Arrigo Sacchi Glanz verleihen. Baresi etwa interpretiert den Libero in direkter Erbfolge zu Beckenbauer. Colombo, der Blonde, flankt von rechts wie keiner in der Bundesliga. Und Maldini, Verteidiger auf der linken Seite, kann mit der Finesse etwa eines Olaf Thon, hierzulande als der letzte Straßenkicker gepriesen, mithalten.

Fünf ganz große Möglichkeiten besaß Milan bis zur Pause. Gullit meinte, „normal ist, wenn wir da schon 3:0 führen“. Stroppas Schuß parierte Aumann mit dem Fuß, Evanis Freistoß boxte er in den naßkalten Abendhimmel, Aumann hier, Aumann da. Die Italiener machten den Torwart der Bayern zum Helden, doch: „Helden“, sagte Aumann, „Helden gibt es nur im Film.“ Und es gibt keine Perfektion im Fußball. Ratschläge hatten VIPs und PROMs in der Halbzeit zuhauf gegeben. DFB-Teamchef Beckenbauer erkannte, „Bayern kommt hinten nicht schnell genug heraus“, Dieter Hoeneß, Stuttgarts Manager, „die bleiben zu lange drin“. Allein: Hätten sich Heynckes‘ Mannen von Beginn als Adventuristen versucht, früher noch wäre der Traum von großen Coup erstickt. Thomas Strunz war es vorbehalten, seine herausragende Leistung mit dem 1:0 zu krönen. Vor einem Jahr noch trat er in der Oberliga Nordrhein für den MSV Duisburg vor den Ball, am Mittwoch hebelte er immer wieder Milans Abseitsfalle aus (Heynckes: „Die größte Genugtuung für mich, daß sie ihre stärkste Waffe nur einmal anwenden konnten): Mit kurzen, harten Flachpässen stangengerade an den Strafraum des Gegners, Strunz fand neben Dorfner immer häufiger den Reißverschluß, das feste AC -Schutzgewand zu öffnen. Bayern bekam Oberwasser, Gullit wußte warum: „Die Deutschen geben doch wirklich nie, nie auf.“

Dieser nie verzagende, pardon: germanische Kampfgeist, die nie versiegende Zuversicht, zu erreichen, was gar nicht in den eigenen Kräften steht, immer wieder haben deutsche Mannschaften daraus den Mut zum Sieg gezogen. Selbst nach dem Ausgleichstreffer keine Spur von Resignation. McInally trifft zur neuerlichen Führung, Bender könnte heute berühmt sein, fehlte aber zweimal. Es bleibt schließlich Hoeneß, dem Manager, die Erkenntnis: „Das war doch super für die Zuschauer. Und wir gehören nach dieser Leistung endgültig zur Spitze Europas.“

Was Milan betrifft, haben sie uns fußballerisch verwöhnt, aber dann: Daß sie sich in den besten Herbergen fremder Städte einquartieren (Motto: Welches ist das teuerste Hotel am Platz?), war zu erwarten; aber nicht, daß sie sich im zweiten Bus des FC Bayern durch die Gegend kutschieren lassen: Ein Hubschrauber, mindestens, hätte es ja schon sein können.

BAYERN: Aumann - Augenthaler - Grahammer, Kohler, Pflügler - Reuter, Dorfner, Thon (82. McInally), Kögl (97. Bender) Wohlfarth, Strunz

MAILAND: Giovanni Galli - Baresi (104. Filippo Galli) Tassotti, Costacurta, Maldini - Colombo, Stroppa (18. Borgonowo), Rijkaard, Evani - van Basten, Massaro

TORE: 1:0 Strunz (60.), 1:1 Borgonovo (101.), 2:1 McInally (106.)