Trotz Embargo keine Hysterie in Vilnius

■ Aufrechterhaltung des normalen Alltags ist die Hauptsorge / Frühlingswetter erübrigt Heizung / Noch wird Benzin per Eisenbahn geliefert

Moskau (taz) - Am Dienstag Abend um 21, Uhr 30 wurden die Erdöllieferungen an die Vilniusser Petrochemische Fabrik eingestellt und gestern morgen um zehn Uhr wurden die Gaslieferungen begrenzt. Als erste Reaktion der Vilniusser Regierung wurden die Weiterlieferungen von Erdölfolgeprodukten an Lettland, Weißrußland und Kaliningrad eingestellt und auch die örtlichen Produktionsstätten, die solche Brennstoffe verbrauchen, soweit sie nicht Lebensmittel herstellen. Die Aufrechterhaltung des normalen Alltags der Bürger ist dabei vorläufig Ziel Nummer 1.

Der unabhängige litauische Kommunist Neris Germanow erklärte gegenüber der taz, immer noch träfen zwei Drittel der bisherigen Benzinmenge per Eisenbahn in Vilnius ein, wie lange noch, sei indes ungewiß. Angesichts des für Vilnius ungewöhnlich warmen Frühlingswetters ist die sonst für diese Jahreszeit noch übliche Beheizung der Wohnblocks eingestellt worden. Die Stadtverwaltungen lassen den ihnen zustehenden Treibstoff zwar vorläufig bevorzugt den Nahverkehrsmitteln zukommen, aber die Ausgabe von Benzin an Privatwagen ist nicht eingestellt, sondern lediglich kontigentiert. „Schlangen vor den Tankstellen haben wir schon seit Tagen“, meinte Germanow, „und so habe ich es gestern abend gar nicht als schlimm empfunden, eine halbe Stunde zu warten.“ Germanow bezeichnete die psychologischen Wirkungen der Blockade auf die litauischen Bürger als vorläufig gering: „Erst mal stimmt uns das alles nur trotzig!“

Im Büro von Ministerpräsidentin Prunskiene hofft man auf den Druck des Auslands, vor allem seitens der USA auf die UdSSR. Die realen Hilfsmöglichkeiten schätzt man aber im Parteibüro vorsichtig ein. „Es bestehen Pläne für Lieferungen aus Polen und Norwegen“, meinte Germanow, „doch sie sind nicht sehr real, denn erstens kann man jederzeit unsere Grenzen dicht machen und zweitens haben wir gar nicht die technischen Möglichkeiten, soviel Treibstoff aus diesen Richtungen zu entladen oder auf Dauer zu lagern.“ Fernsehen und Rundfunk in Vilnius unterrichten die Bevölkerung stündlich über die Lage auf dem Energiesektor.

Der litauische Oberste Sowjet am Donnerstag vormittag eine Krisenkommission unter der Leitung des stellvertretenden Ministerpräsidenten und Parteichefs Algirdas Brasauskas.“ Natürlich sind wir alarmiert“, meinte der Vilniusser Psychologe Rimas Schelvis, „aber niemand von uns kann sich eigentlich vorstellen, daß eine Großmacht kurz vor dem Jahre 2000 mit derart mittelalterlichen Methoden dauerhafte weltpolitische Erfolge erzielen kann. Noch glaubt niemand, daß diese Art von Druck anhält.

klh