Auf der Suche nach der verlorenen Identität

■ Lothar de Maizieres Regierungserklärung am Donnerstag war Ausdruck eines parteiübergreifenden Konsenses

Der neue Ministerpräsident der DDR, Lothar de Maiziere, hat in seiner Regierungserklärung am Donnerstag vor der Volkskammer den Versuch unternommen, den Menschen der DDR ihr doch arg angekratztes Selbstwertgefühl zurückzugeben. Sie dürften nicht das Gefühl bekommen, „zweitklassige Bundesbürger“ zu werden. „Grundlegender Kurs“ der Regierung sei daher ein Beharren auf die Währungsumstellung von 1:1. Das Problem der Regierungserklärung war, daß sie konsensfähige Grundsatzpositionen verknüpfte mit Vorhaben, deren Realisierung die DDR-Regierung nicht allein in der Hand hat. Nach der anschließenden aktuellen Stunde über den Verfassungsentwurf des Runden Tisches mußte man sich fragen, ob es sich um das Vorspiel einer Verfassungsdebatte oder um ein Nachspiel des Wahlkampfs handelte.

Die Regierungserklärung von Lothar de Maiziere in der gestrigen Volkskammersitzung in Ost-Berlin hat in den konkreten Vorhaben wenig Überraschungen gebracht, wohl aber war sie im grundsätzlichen Teil beeindruckend. Daß ihr am Schluß sogar PDS-Vorsitzender Gregor Gysi (wenn auch nicht seine ganze Fraktion) Beifall zollte, zeigt, daß de Maiziere mehr geleistet hat, als nur ein Regierungsprogramm vorzustellen. Soweit für seine Rede bundesdeutsche Vorbilder eine Rolle gespielt haben, so war es gewiß nicht Helmut Kohl, an den er gedacht hat, sondern Richard von Weizsäcker.

De Maiziere war sichtbar bemüht, für alle DDR-BürgerInnen zu sprechen und ihnen wieder etwas von ihrem stark angeschlagenen Selbstwertgefühl zurückzugeben: „Zum ersten Mal seit vielen Jahrzehnten haben sich die Menschen in der DDR als Volk konstituiert. (...) Wir haben einen demokratischen Auftrag. Den haben uns die Bürger der DDR gegeben, und niemand sonst.“ Direkt an die Adresse der BRD gerichtet, erklärte er: „Das Ja zur Einheit ist gesprochen. Über den Weg dahin werden wir ein entscheidendes Wort mitzureden haben.“ Und noch etwas deutlicher: „Die Diskussionen um die Währungsumstellung 1:1 oder 1:2 haben uns mit aller Deutlichkeit vor Augen geführt (...), daß wir Bedingungen vereinbaren müssen, die sicherstellen, daß unsere Bürger nicht das Gefühl bekommen, zweitklassige Bundesbürger zu werden.“ Auf die rethorische Frage „Haben wir gar nichts einzubringen in eine deutsche Einheit?“ antwortete er: „Wir bringen unsere Sensibilität für soziale Gerechtigkeit, für Solidarität und Toleranz ein. (...) Wir bringen unsere Identität ein und unsere Würde.“

Der Ministerpräsident stellte die Umwälzung in der DDR in den Kontext des „demokratischen Erbes Deutschlands“ vom Bauernkrieg, der 1848er Revolution und der Novemberrevolution 1918 über den 20. Juli 1944 bis hin zum 17. Juni 1953. Sein ausdrücklicher Dank galt den „neuen demokratischen Gruppen“, die „einen herausragenden Platz in der deutschen Geschichte“ verdienten, den Kirchen, aber auch Hans Modrow. Er habe „als Demokrat überparteilich“ mit seiner „behutsamen Politik“ entscheidend dazu beigetragen, daß „uns sicher vieles erspart blieb“. De Maiziere erinnerte auch an den Beitrag Gorbatschows zu den Umwälzungen der letzten Jahre, an den Kampf der polnischen Solidarnosc und an die tschechoslowakischen Bürgerrechtler. Und er dankte führenden bundesdeutschen Politikern - voran Richard von Weizsäcker - für ihr Bekenntnis zur „Einheit des deutschen Volkes“.

Erbkrankheiten

Sein Rückblick auf die Geschichte der DDR konzentrierte sich vor allem auf den „diktatorischen Zentralismus“ als der „eigentlichen Erbkrankheit der sozialistischen Gesellschaft“. Selbstkritik wurde dabei nicht ausgespart: „Es ist nicht die PDS allein, die unsere DDR-Vergangenheit zu verantworten hat. Auch meine Partei muß sie verantworten. Wir alle müssen sie verantworten. Es waren immer nur ganz wenige, die etwa bei Wahlen wagten, Gegenstimmen abzugeben oder der Wahl fernzubleiben.“ Und: „Wir müssen uns unsere seelischen Schäden bewußt machen...“

Keine Selbstverständlichkeit war es auch, daß de Maiziere daran erinnerte, daß es bedeutendere Probleme als die deutsche Teilung gibt: „Die eigentlichen Probleme in unserer Welt (...) bestehen in der strukturellen Ungerechtigkeit zwischen Nord und Süd.“ Ob allerdings der Beitrag, den er zur Überwindung dieser Ungerechtigkeit ankündigte, nämlich die „Verschmelzung des deutsch-deutschen Engagements in den Ländern der Dritten Welt“, dieser Aufgabenstellung angemessen ist, das darf mit gutem Grund bezweifelt werden. Es war ein Problem dieser ganzen Rede, weil es das Problem dieser Koalition ist, daß sie konsensfähige Grundsatzpositionen verküpfte mit Vorhaben, die unzureichend scheinen, um sie auch einzulösen. Es war die moralisch überlegene Position des Schwächeren, die dieser Rede zugrunde lag.

Daß Lothar de Maiziere in seiner Fraktion ein ziemlich einsames Licht ist, zeigte die anschließende Aktuelle Stunde zum Verfassungsentwurf des Runden Tisches. Bekanntlich hat die DDR zwar eine Verfassung, doch die will niemand mehr. Auf fast jeder Volkskammer-Tagung wird an ihr herumgebastelt. Um diesem Problem abzuhelfen, gäbe es eine Lösung: den Verfassungsentwurf des Runden Tisches durch eine Volksabstimmung an die Stelle der alten Verfassung zu setzen. Dieser Entwurf war von der Arbeitsgruppe Neue Verfassung des Runden Tisches ausgearbeitet worden. Wesentliche Teile davon waren auf der letzten Sitzung des Runden Tisches am 12. März mit übergroßer Mehrheit verabschiedet worden. Der vollständige Entwurf wurde am 4. April von der Arbeitsgruppe fertiggestellt.

Verfassungsdiskussion

Seither bemühen sich die im „Bündnis '90“ zusammengeschlossenen Bürgerrechtsorganisationen darum, diesen Entwurf der Volkskammer vorzustellen. Die anderen Parteien wollten da nicht mitziehen, so daß dies erst jetzt in der dem Gegenstand unangemessenen Form einer Aktuellen Stunde gelang. Gerd Poppe stellte in einer kurzen Einleitungsrede den Entwurf vor. Der Grundgedanke ist, in eine neue Verfassung die Erfahrungen der Herbstrevolution einfließen zu lassen. Zugleich soll damit in die Debatte über eine künftige gesamtdeutsche Verfassung eine eigene DDR -Verfassung eingebracht werden, in der die fortschrittlichsten Elemente internationaler Verfassungsdiskussionen eingehen. Im Vordergrund stehen dabei die sozialen Grundrechte (Recht auf Arbeit, Wohnung, Gleichstellung der Geschlechter) und Elemente direkter Demokratie (Volksabstimmungen).

Inhaltlich hatten die anderen Fraktionen an dem Entwurf nichts auszusetzen, im Gegenteil, fast alle Redner waren voll des Lobes, zollten ihren „Respekt“ für die geleistete Arbeit usw. Doch mit Ausnahme der PDS wollte sich keiner dafür aussprechen, diesen Entwurf tatsächlich zur Abstimmung zu stellen. Für die CDU/DA-Fraktion stellte B. Kögler die Frage: „Wozu brauchen wir noch eine neue Verfassung? Wir gehen mit eiligen Schritten auf die Einheit zu!“ Eine Verfassungsdiskussion wäre Zeitverschwendung. Zu der Problematik, daß das bedeutet, auf Basis der gegenwärtigen „sozialistischen“ Verfassung agieren zu müssen, brachte die gelernte Rechtsanwältin ein sonderbares Argument ein: Diese Verfassung brauche nicht mehr durch einen „formellen Akt“ außer Kraft gesetzt zu werden, weil sie durch die Herbstrevolution nur noch die „Form eines einfachen Gesetzes“ habe.

Der Hintergrund für dieses Argument ist natürlich, daß sie und ihre Fraktionskollegen gerne Verfassungsänderungen mit einfacher Mehrheit - unabhängig von den Stimmen des Koalitionspartners SPD - verabschieden möchte. Werner Schulz vom „Bündnis '90“ provozierte dieses Argument zu der bösartigen Bemerkung, er frage sich, ob „bei Ihrem Rechtsbewußtsein für das Verbot Ihrer anwaltlichen Tätigkeit nicht nur willkürliche Gründe“ entscheidend gewesen seien. Das brachte ihm die Ermahnung der Volkskammerpräsidentin ein, sich „persönlicher Angriffe“ zu enthalten.

Köglers Fraktionskollege Becher von der CDU ergänzte ihre Argumentation noch mit der Feststellung, daß eine neue Verfassung „Zeit zur Reife“ brauche. Das aber sei gefährlich, denn „die Kontroverse (könnte) den Willen zur deutschen Einheit einschläfern...“

Für die DSU erklärte Jürgen Schwarz: „Wir als DSU wollen keine Neukonsolidierung der DDR.“ Eine Verfassungsdiskussion würde das falsche Signal geben, wo es doch doch darum gehe, „so rasch wie möglich“ der BRD nach Art. 23 Grundgesetz beizutreten. „Wir brauchen die Einheit zum Überleben, zur Vermeidung des Chaos“, meinte Schwarz.

Differenziertere Töne waren von der SPD zu hören. Deren Fraktionsvorsitzender Schröder befürwortete eine Veränderung der bestehenden Verfassung nach dem „Bausteinprinzip“. Wenn das nicht mehr weiterführe, könne man immer noch auf den Entwurf zurückkommen. So will man sich offenkundig alle Möglichkeiten offen lassen.

Insgesamt gesehen hat die Volkskammer über das Problem der Verfassung auf einem Niveau diskutiert, das nur als kläglich zu beschreiben ein Ausdruck von Höflichkeit ist. Der Frage, auf welcher eigenen verfassungsrechtlichen Grundlage die DDR in den Einigungsprozeß eintreten will, ist sie ausgewichen. Auch auf mittlere Frist wird das nicht genügen.

Walter Süß