Europa mauert seinen Reichtum ein

■ Die EG errichtet eine unsichtbare Mauer durch das Mittelmeer / Einwanderer aus Nordafrika und der Türkei sind unerwünscht / „Helsinki-Konferenz“ für den Mittelmeerraum gefordert

Brüssel (dpa) - Wird Europa nach dem Fall des Eisernen Vorhangs eine neue Mauer gen Süden errichten? Zu Hunderttausenden reisen Maghrebiner, Afrikaner, Asiaten und Türken in die Europäische Gemeinschaft, um der Not im eigenen Land zu entkommen. Die Möglichkeiten, legal einer Arbeit nachzugehen, sind jedoch sehr gering. So schlägt man sich eben durch, so gut es geht. Selbst in Italien - bisher eher ein Aus- als ein Einwanderungsland - wird die Zahl der illegalen Einwanderer auf eine Million geschätzt.

Wüste Ausschreitungen gegen Nordafrikaner haben die italienischen Behörden aufgeschreckt. In Frankreich spricht Präsident Mitterrand von der „Schwelle zur Intoleranz“, die durch die Einwanderung überschritten zu werden drohe. Was man bisher nur aus Hongkong oder dem amerikanisch -mexikanischen Grenzgebiet kennt, kann bald auch in Europa Wirklichkeit werden: an den Küsten gestrandete „Boat people“ oder Polizisten, die Jagd auf Illegale machen.

Vor allem in Nordafrika deutet vieles darauf hin, daß sich der Trend zur Emigration weiter verstärkt. Nach Schätzungen der EG-Kommission steigt in den Ländern am südlichen und südöstlichen Mittelmeer in den nächsten drei Jahrzehnten die Bevölkerungszahl von derzeit 200 auf fast 500 Millionen Menschen. Allein in den Maghreb-Ländern Marokko, Algerien und Tunesien würden dann mit 100 Millionen doppelt so viele Menschen leben wie heute.

Italien, das ab Juli die EG-Ratspräsidentschaft führt, verlangt jetzt eine gemeinsame Visumpolitik aller EG-Staaten und einen EG-weiten Kampf gegen „Wirtschaftsflüchtlinge“ und illegale Immigranten. Außenminister Gianni de Michelis legte ein Memorandum vor, das für jedes EG-Land eine feste Quote von Gastarbeitern aus Drittstaaten vorsieht. Rom selbst beauftragte das Militär, die Grenzen Italiens gegen illegale Einwanderer zu sichern.

Bisher hatte die EG mit der Einwanderung wenig zu tun, obwohl in den EG-Staaten über 13 Millionen Ausländer leben, davon acht Millionen aus Nicht-EG-Ländern. „Die Visumpolitik ist durch den derzeitigen Auftrag der EG nicht gedeckt, weil sie unter die außenpolitische Souveränität der Mitgliedsstaaten fällt“, sagt Manfred Brunner, Kabinettschef von EG-Kommissar Martin Bangemann.

Dies dürfte sich mit der Schaffung des Binnenmarktes ab 1993 ändern. Der Abbau der EG-Binnengrenzen bedeutet nämlich, daß zum Beispiel ein in Frankreich lebender Marokkaner ohne Kontrolle in die BRD reisen darf. Unterschiedliche Visavorschriften innerhalb der EG machen dann keinen Sinn mehr.

Die EG-Staaten sind sich einig darüber, daß nach 1992 die Kontrolle der Außengrenzen der Gemeinschaft verstärkt wird. Zudem arbeiten Experten an einer „Negativliste“ mit all den Ländern, von deren Bürgern die EG-Staaten ein Visum verlangen wollen. „Schwerpunkte der Abstimmungsbemühungen sind die Maghreb-Staaten, die Türkei, Iran und Sri Lanka“, sagt Brunner. Das Ziel ist die Schaffung eines „Europavisums“, das für die ganze EG gelten soll.

EG-Kommissar Abel Matutes hat vorgeschlagen, die EG solle eine ganz neue Strategie für ihre Mittelmeerpolitik entwickeln und die Region mit Finanz- und Investitionshilfen, Schulden- und Handelserleichterungen unterstützen. Die künftige italienische EG -Ratspräsidentschaft will gar ein „mediterranes Helsinki“ schaffen - eine Konferenz der Mittelmeerländer nach dem Vorbild der KSZE, deren Themen sich gleichfalls in die drei „Körbe“ Konfliktverhinderung, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Menschenrechte untergliedern.

Hubert Kahl