100 Jahre 1. Mai - 100 Jahre Zukunft

■ Heute eröffnet eine bundesweit einmalige Ausstellung zur Geschichte des Maifeiertages / Auch Nationalsozialismus nicht ausgespart

Zwei Sträflinge, altertümlich quergestreift mit Häubchen auf dem Kopf, drängen sich vors Fenster, drücken sich fast die Nasen platt am vergitterten Fenster der Unteren Rathaushalle. Die Historie hinter sich, blicken die beiden Häftlinge rüber zu Domshof und Bürgerschaft. Bis zum 13. Mai werden die beiden dort ausharren - durch Stacheldrahtzaun und Wärter in die Ecke gedrängt. Allerdings: Sträflinge samt Bewacher sind nur aus Pappmaschee und Bestandteil einer Ausstellung zur Geschichte des 1. Mai, die heute vormittag (11 Uhr) eröffnet wird.

Am 1. Mai 1933 dagegen war diese Szene ganz real: Auf Anordnung des Polizeipräsidenten mußte eine kleine Gruppe von Schutzhäftlingen sich die geschmückte Stadt und den Umzug ansehen. Dies war die bewußte Konfrontierung von im KZ Mißler inhaftierten Sozialdemokraten und Kommunisten mit dem ersten

nationalsozialistischen 1. Mai. Die Nationalsozialisten waren es übrigens auch, die den 1. Mai zum gesetzlichen Feiertag erklärten.

Heftig diskutiert hatten die AusstellungsmacherInnen (u.a. die Forschungs- und Bildungsstätte der Arbeiterbewegung im Lande Bremen unter der Federführung von Inge Marßolek und Adolf Brock), ob sie auch die bisher weitestgehend stillgeschwiegene Rolle der Gewerkschaften im 3. Reich dokumentieren sollten. Jetzt kann sich die BesucherIn dem einigen „Ja“ zu dieser Frage kaum entziehen: Nachdem sie sich durch Stellwände zu den Anfängen des 1. Mai vor 100 Jahren und zum Maifeiertag in Kaiserreich und Weimarer Republik geschaut und gelesen hat, zwingt ein etwa mannshoher schwarzer Gang die BesucherIn in den zweiten Teil der Ausstellung. In dem Übergang ist rechts der Aufruf der ADGB-Führung zur Beteiligung an den nationalsozialisti

schen Maifeiern dokumentiert. Direkt gegenüber tut sich hinter durchsichtiger Plastikfolie ein Aktenraum auf: Dokumente der Verfolgung, Befehle zur Zwangssterilisierung zum Beispiel, werden hier scheinbar „aufbewahrt“, zum Teil können sie in Fotokopie mitgenommen, auf jeden Fall aber durchgeblättert werden.

Zum Verlassen dieses Übergangsbereiches muß man einen auf Vorhang gebannten Volksempfänger durchschreiten. Dabei schallen den BesucherInnen über Tonträger Ausschnitte aus der Rede Adolf Hitlers am 1. Mai 1933 auf dem Tempelhofer Feld in Berlin entgegen. Die Berichte eines alten Bremer Arbeiterveteranen konterkarieren seine Propaganda.

100 Jahre 1. Mai, das sind nach Meinung von der „Forschungsstätte zur Geschichte der Arbeiterbewegung“ und DGB, die im Auftrag und finanziert von Bremens Bildungssenator die Ausstellung in mehrjähriger Arbeit erstellt haben, auch „100 Jahre Zukunft“. Das sind die mutigen „Spaziergänge“ derer, die 1890 in Bremen zum ersten Mal die Arbeit niederlegten - als demonstrieren noch streng verboten und ein acht-Stundentag noch utopi

sche Zukunftsmusik war. Das sind auch die provokativen Maiumzüge unter den Fenstern der Dobben-Bourgoisie. Das sind die Spaltung von Arbeiterwegegung und Maifeiern in rußland -orientierte KPD und auf Republik-setzende Sozialdemokraten sowie

deren Militarisierung. Das sind aber auch die Wandlung vom Arbeiter zum Wirtschaftsbürger nach Ende des Zweiten Weltkrieges. Und die Mai-Demonstration von 1961, die auf dem Domshof vor großem Repro des Brandenburger Tores die Wiedervereini

gung forderte.

ra

Die Ausstellung ist bis 13.5. täglich von 10 bis 18 Uhr geöffnet. Führungen für Gruppen: Tel. 498 61 61. Bücher zur Ausstellung von der Büchergilde Gutenberg: „100 Jahre Zukunft“, „Unsrer Zukunft eine Gasse“.