Inflation besiegt - Konsum eingestellt

Brasiliens Präsident hat mit seiner wirtschaftlichen Roßkur erste Erfolge schon nach einem Monat / Fernando Collor de Mello bestimmt mit seiner persönlichen Macht über Wohl und Wehe Brasiliens / Noch steht die Bevölkerung hinter den radikalen Maßnahmen, die vor allem dem Mittelstand schwere Opfer abverlangen  ■  Von J.Lerch und Th.Fathener

„Ich habe nur eine Kugel, und die muß treffen!“ So spricht kein verspäteter Westernheld, sondern Brasiliens neuer Präsident, Fernando Collor de Mello. Die Kugel, das ist sein „Plano Collor“, der radikalste Versuch, die Wirtschaft zu reformieren, den Brasilien je erlebt hat. Sein anvisiertes Ziel: Der gebeutelten Wirtschaft Hyperinflation und -verschuldugn im Handstreich zu nehmen.

Die erste große Hürde hat sein Plan in der letzten Woche schon genommen. Der Kongreß, mehrheitlich noch von den alten herrschenden Kräften um die ehemalige Regierungspartei PMDB besetzt, verabschiedete mit nur geringfügigen Änderungen die Radikalkur. Unangetastet blieb das Herzstück, die Einfrierung von rund zwei Dritteln der brasilianischen Geldmenge, etwa 115 Milliarden Dollar. Über Nacht, an seinem ersten Amtstag, hatte Collor verkündet, sämtliche auf Spar und Girokonten oder in Wertpapieren angelegten Gelder würden auf 18 Monate bei der Zentralbank festgelegt. Die geschockten Brasilianer durften umgerechnet nur gut 2.000 DM pro Konto abheben. Ausnahmen macht Collor mittlerweile nur bei Unternehmen für Lohnzahlungen und bei Rentnern, die in Brasilien häufig von sauer Erspartem leben.

Ebenfalls gleich am ersten Amtstag hatte Collor die Auflösung von zwölf staatlichen Behörden, in den Augen vieler Brasilianer Horte der Korruption, verfügt, darunter das große Kaffeeinstitut, aber auch der militärische Geheimdienst SNI, bei dem rund 50 Prozent der Angestellten reine Gehaltsempfänger waren, ohne jemals zu arbeiten. Auch diese Auflösungen hat der Kongreß bestätigt. Dabei wurden mehr als 10.000 Angestellte, die weniger als fünf Jahre beschäftigt waren, sofort entlassen. Expräsident Sarney war mit diesem Versuch zweimal im Parlament gescheitert.

Die Privatisierungen der Staatsbetriebe, ein weiteres Kernstück des neoliberalen Programms, können nun ebenfalls anlaufen, obwohl sich das Parlament vorbehielt, über jede größere Veräußerung selbst noch einmal entscheiden zu wollen. Zudem dürfen Ausländer nur bis zu 49 Prozent des Kapitals der Staatsbetriebe erwerben. Das Parlament, selbst lange Zeit tragende Säule der brasilianischen Vettern- und Günstlingswirtschaft, stimmte sogar der völligen Streichung der Export- und sämtlicher sonstiger Subventionen zu einzige Ausnahme: die riesige Aluminiumindustrie im Amazonasgebiet. Mit diesen Maßnahmen will Collor den hoffnungslos verschuldeten Haushalt entlasten, Ballast abwerfen. In einem Jahr soll der Staatshaushalt statt Schulden Überschuß aufweisen. Das muß er auch, denn Geld leiht der Regierung Collor niemand mehr, seit sie mit dem „Congelamento“ auch die Staatsanleihen eingefroren hat.

Die Parlamentsdebatte fand vor dem Hintergrund einer durch die Collorsche Roßkur in ihren Grundfesten erschütterten Wirtschaft statt. In 100 Tagen wollte der Neue die zuletzt 80 Prozent im Monat betragende Inflation auf Null heruntergeknüppelt haben. Gelungen ist es ihm de facto schon jetzt - nach einem Monat. Die Preise steigen nicht mehr, obwohl sie - anders als bei früheren Sanierungsversuchen freigeblieben sind, nur bei 100 Produkten wurde ein Höchstpreis festgesetzt. Teilweise werden sogar diese wenigen festgesetzten Preise unterschritten. Der Grund: Es ist kein Geld mehr da. Die Einfrierung der Gelder hat den Konsum fast komplett zum Erliegen gebracht. In den ersten Tagen nach der Verkündung blieben Geschäfte und Restaurants leer, sogar das Verkehrschaos in Rio und Sao Paulo war ausgesetzt, die Leute hatten nicht einmal mehr Geld für das Benzin. Inzwischen beginnen sich die Supermärkte wieder zu füllen, doch größere Anschaffungen kann sich immer noch keiner leisten.

Schätzungsweise 40 bis 50 Prozent der brasilianischen Betriebe liegen daher still, niemand kann ihre Produkte kaufen. Die Großunternehmen haben ihre Angestellten in bezahlte Betriebsferien geschickt, die kleineren dicht gemacht und - sofern sie konnten - entlassen. Offiziell soll es schon etwa 50.000 Arbeitslose geben, ein Bruchteil der tatsächlichen Zahl. Da in Brasilien kaum jemand Anspruch auf Arbeitslosengeld hat, lassen sich auch nur wenige registrieren.

Es ist offensichtlich, Brasilien steckt schon jetzt in der Rezession, vor der alle Experten bei einem so massiven Entzug von Liquidität gewarnt haben - mit der allerdings auch Collor rechnet. Doch kaum jemand wagt gegenwärtig grundsätzliche Kritik. Die Unternehmer stellen zwar Investitonen zurück und mäkeln an Details der Maßnahmen herum, offen in die Opposition gehen sie aber nicht. Im Parlament ist es Collor gelungen, einen rechten Block zu bilden, der es sich angesichts der im Oktober/November bevorstehenden Parlamentswahlen nicht mit einem Präsidenten verscherzen wollte, der so populär ist wie Fernando Collor momentan. Trotz der Widrigkeiten unterstützen laut jüngsten Umfragen der Collor-kritischen Tageszeigung 'Folha de Sao Paulo‘ noch immer mehr als 70 Prozent der Bevölkerung den „Plano Collor“.

Die Linke, die in Teilen Collor anfangs lobte - griff er doch wirklich den Reichen in die Tasche - ist inzwischen abgerückt und kritisiert vornehmlich drei Punkte:

1. Die unvermeidliche Rezession verursache Massenarbeitslosigkeit und verschlechtere langfristig weiter die Lebensbedingungen der unteren Schichten.

2. Die Einfrierung der Gelder sei zu undifferenziert erfolgt und habe auch die untere Mittelschicht um mühsam Erspartes geprellt.

3. Die Kaufkraft der Löhne betrage nur noch 60 Prozent der des Vorjahres und eine Verbesserung sei nicht in Sicht.

Allerdings scheint bei den Löhnen die Talsohle im Januar noch unter der alten Regierung Sarney - schon durchschritten, und zumindest tendenziell scheinen sie sich mit dem Wegfall der Inflation zu verbessern. Die Angst vor einer langfristigen Rezession wehrt Collor ab: Würde sie zu stark, dann werde er eben doch einige der gesperrten Mittel wieder freigeben. Eine Äußerung, die deutlich macht, welche Macht gegenwärtig in den Händen des ersten demokratisch gewählten Präsidenten Brasiliens seit 29 Jahren liegt. Er ist Herr über 115 Milliarden Dollar, er entscheidet von Tag zu Tag über Wohl und Wehe der brasilianischen Wirtschaft, und er geriert sich zunehmend autoritär.

Die wichtigste Kraft in der neuen Führung ist neben der Wirtschafts- und Finanzministerin Zelia Cardoso der alte und neue Polizeipräsident Romeu Tuma. Mit harter Hand setzt Fernando Collor seine Maßnahmen durch. Die Polizei ist präsent, schon gab es etliche spektakuläre Festnahmen. Geschäftsführer von Supermärkten wurden verhaftet, weil sie sich nicht an die neuen Preisgesetze hielten. 'Folha de Sao Paulo‘, immerhin größte Tageszeitung Brasiliens, wurde von der Polizei durchsucht. Der Vorwurf: Sie hätte zwischen der alten Währung, dem Cruzado Novo und der neuen, dem Cruzeiro, falsch aberechnet. Vorwürfe, die sich kurz darauf in Luft auflösten.

Schon mehrfach sind Collors „Über-Nacht-Verordnungen“ mit der Verfassung kollidiert. So mußte er vorerst seine Absicht rückgängig machen, Steuerhinterzieher sofort und ohne Bewährung hinter Gitter zu bringen. In seinem Plan strich ihm der Kongreß einen Passus, der Angestellten verbot, ihre Chefs zu kritisieren oder Kollegen zur gewerkschaftlichen oder politischen Arbeit zu „nötigen“. Der Passus verstoße schlicht gegen das Recht auf freie Meinungsäußerung. In einer großen Pressekampagne wird der jugendlich -kraftstrotzende Collor ob seines autoritären Regierungsstils schon als „Mussolini der 3.Welt“ bezeichnet.

Gelingt es ihm, aus dem kurzfristigen Sieg über die Inflation einen langfristigen zu machen und besonders, sich auf dem schmalen Grat zwischen Inflationsbekämpfung und Rezessionsgefahr zu halten, könnte ihm ein Wirtschaftswunder in Brasilien gelingen. Doch die dann fällige Medaille könnte eine Kehrseite haben.