Metropole statt Peripherie

Berlin ist „ein Gebilde, das sozusagen immer nur wird und nie ist“ (Ernst Bloch, 1932)  ■ E S S A Y

Berlin hat stellvertretend für das Deutsche Reich den Zweiten Weltkrieg verloren. Das republikanische Bollwerk der Zwischenkriegsjahre wurde Anfang der 30erJahre von der völkisch-nationalistischen „braunen Provinz“ besetzt und von Hitler, Himmler und Heydrich zur Terrorzentrale beziehungsweise Schaltstelle des NS-Völkermordes ausgebaut. Im westdeutschen Nachkriegsteilstaat galt die ehemalige Reichshauptstadt nicht zuletzt deshalb, weil sie den preußischen Zentralismus repräsentierte, als Sündenbock der verunglückten neueren deutschen Geschichte. Das „politische Schwergewicht Deutschlands“ sollte deshalb, so Dr. Konrad Adenauer in einem Privatbrief vom 7.Februar 1946 an den damaligen CSU-Oberbürgermeister von München, Dr. Karl Scharnagl, selbst dann „wenn Berlin nicht vom Russen besetzt wäre“ von dort fortverlegt werden. Die Aussage dieser Briefpassage ist durchaus nicht untypisch für die Ende der 40er Jahre im rheinischen CDU-Milieu vorherrschende „Los-von -Berlin-Bewegung“. Bonn als Hauptstadt war für die geschichtsbewußten ehemaligen katholischen Zentrumspolitiker letztlich so etwas wie eine späte Rache für die Annexion Westfalens und der Rheinlande durch Preußen im Jahre 1815.

Tatsächlich hatten die Nazis bei der letzten freien Reichstagswahl am 6.November 1932 in Berlin nur ganze 22,5 Prozent und bei der Reichstagswahl am 5.März 1933 - trotz des Bürgerkriegsterrors der SA - nur 31,3 Prozent der abgegebenen Stimmen auf sich vereinigen können. (Lediglich der vorwiegend katholisch geprägte Wahlkreis 20/Köln-Aachen hatte mit 30,1 Prozent ein für die NSDAP noch schlechteres Wahlergebnis.) Die braune Provinz hatte also im verhaßten „Zivilisationsherd“ (Heinrich Mann) parlamentarisch nie gesiegt. Die Metropole der Zerstreuung, Hektik und Nervosität stand dem braunen Mummenschanz fremd gegenüber. Moderne versus „Blut und Boden“. (Dies galt freilich nur für die „Kampfzeit“ der NSDAP. Als Regierungspartei trieb die NS -Führung die Modernisierung der deutschen Industrie selbst mit voran.)

Stechuhren, Fahrpläne und groß- städtische Betriebsamkeit bestimmten den Rhythmus dieser großen deutschen Industrie und Kulturmetropole, nicht der Marschschritt der brauen SA -Kolonnen. Dennoch hat der totale Willkür- und Ausnahmestaat der Nazis 1933 vor den Toren Berlins nicht halt gemacht. Die Hitleristen erklärten die klassenbewußten sozialdemokratischen und kommunistischen Arbeiter/innen für vogelfrei; antisemitische Pöbelinstinkte und der Haß der völkischen „Kulturtrottel“ (Kurt Tucholsky) gegen die republikanischen Intellektuellen bestimmte jetzt die Politik der Reichsregierung. Wer aber glaubt, Berlin sei schließlich zur befriedeten Reichshauptstadt „Germania“ geworden, irrt. Denn Berlin war zugleich immer auch die Hauptstadt des proletarischen, später auch des bürgerlich-konservativen und militärischen Widerstandes. Die Geschichte der 4,3-Millionen -Stadt war nach 1933 insofern auch eine Geschichte vom Überleben. In keiner deutschen bzw. österreichischen Stadt wurden so viele Juden versteckt und gerettet wie in Berlin.

Im Inferno der Bombennächte ging dieses vielschichtige Stadtgebilde unter. Die neuen Bauherren in der durch den Kalten Krieg gespaltenen Metropole setzten alles daran, die Spuren der Geschichte durch Kahlschlagsanierung und Beton zu verwischen. Die Schlagworte lauteten jetzt: „Autogerechte Stadt“ und „Desurbanisierung“ - die Forschungs- und Verwaltungszentren der Industriekonzerne verlagerten sich schon bald nach Westdeutschland. Seit dem 9. November 1989 ist freilich alles anders.

Das alte neue Berlin mit seinen 2,1 Millionen Menschen im Westen und 1,3 Millionen im Osten wächst erneut zusammen. Die 3,4-Millionen-Stadt wird wieder eine Metropole, mit oder ohne Hauptstadtattribute. Auf eines sollten wir nun in Berlin allerdings verzichten: auf eine Neuauflage der Olympischen Spiele auf dem ehemaligen Reichssportfeld in Charlottenburg. Der Fahnenwald des Jahres 1936 reicht für dieses Jahrtausend aus. In der Stadt und ihrem Umland gibt es in Zukunft wichtigere Probleme.

Die Angstkampagne der Ost-CDU und der DSU gegen die SPD der DDR und der triumphale Wahlsieg des konservativen Bündnisses „Allianz für Deutschland“ am 18.März 1990 in Sachsen und Thüringen zeigt übrigens, daß der Aufstand des platten Landes gegen die Metropole Berlin weitergeht. Sieger in der DDR ist nicht die Demokratie - sondern die Mitläufermentalität, das antisozialistische Ressentiment und die DM. Deshalb wählte dann auch die Mehrheit der DDR-Bürger im Süden die ehemalige Blockflöten-Partei und damit indirekt die West-CDU bzw. „Mark(t)wirtschaft“ - so die 'Frankfurter Rundschau‘ vom 19.März - von Helmut Kohl. Die Verlierer sind eindeutig die Bürgerbewegungen und die Sozialdemokratie. Die SED säte, und die Union fuhr die Ernte in die Scheuer ein. Die Ostberliner haben jedoch gegen diesen Trend gestimmt.

Kurzum: Berlin ist ein „europäisches Chicago“ (Mark Twain) und ein westliches Moskau zugleich. Ein Schnittpunkt fremder Einflußsphären, von alten gesellschaftlichen Strukturen umzingelt. Der CDU-Staatssekretär in der Hessischen Staatskanzlei, Alexander Gauland, schürte übrigens jüngst die alten Vorbehalte gegen Berlin, als er in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 27.März 1990 schrieb: „Wir haben zur Kenntnis zu nehmen, daß es eine Spaltung Europas gibt, eine Spaltung zwischen dem römischen und dem nichtrömischen Teil unseres Kontinents. Rom, London, Paris, Dublin und Washington sind einander viel näher als jede dieser Städte zu Berlin oder Warschau. Der alte Stechlin blickte nach Osten, nach Rußland, nicht nach Westen. Daran haben auch Kant und Humboldt nichts ändern können.„1 Dieses Argument erinnert an den Kern der Kontroverse zwischen Heinrich Mann und dem katholisch-humanistischen Schriftsteller Wilhelm Hausenstein aus dem Jahre 1929. Während Berlin für Heinrich Mann ein „Zivilisationsherd“ war, verkörperte die Industrie und Kulturmetropole Berlin für Hausenstein das bismarcksche kleindeutsche Reich, das zum „heillos wilhelminischen fin de siecle“ geführt habe. Als Hauptstadt eines demokratischen Deutschlands sei Berlin zu nordöstlich, das heißt „falsch zentriert“. Katholische Nachtigall, ick hör dir trappsen! Provinzielle Angst vor urbanen Lebensformen - damals wie heute.

Tilman Fichter

Der Autor war Berliner SDS-Landesvorsitzender und ist wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Parteivorstand der SPD.

Der Text erscheint demnächst in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, 5/1990.