: „Ein Stück Rechtsgeschichte geschrieben“
Sechs ÄrztInnen und Krankenschwestern erhielten den Grünen-Preis für den „aufrechten Gang“, weil sie sich geweigert hatten, ein im Atomkrieg einsetzbares Medikament zu entwickeln / Das Bundesarbeitsgericht gab den Verweigerern in einem Grundsatzurteil recht ■ Von Bettina Markmeyer
Düsseldorf (taz) - „Insgesamt war die Beecham-Wülfing Affäre eine sehr positive Lebenserfahrung für uns alle“ - Andrea Oppermann, ehemals Sachbearbeiterin bei dem Neusser Pharma -Unternehmen, sagte gestern bei der Preisverleihung für den „Aufrechten Gang“, anfangs habe sie „sehr viel Angst vor den Folgen“ ihrer Kündigung bei Beecham gehabt. Der 'Zeit' -Redakteur Horst Bieber dankte in seiner Laudatio Andrea Oppermann und ihren fünf KollegInnen „für einen aufrechten Gang, der ein Stück unserer Freiheit im Alltag gesichert hat“. Die Neusser MedizinerInnen hätten mehr verteidigt als ihre persönlichen Überzeugungen.
Mit dem Preis für den „aufrechten Gang“ ehren die nordrheinwestfälischen Grünen alle zwei Jahre Menschen, die auch am Arbeitsplatz nach ihrem Gewissen entscheiden und dafür Schwierigkeiten riskieren. 1988 hatte der Steuerfahnder Klaus Förster den Preis erhalten, der den Flick-Parteispendenskandal mit aufdeckte. In diesem Jahr überreichte Vorstandssprecherin Beate Scheffler die Urkunden an Andrea Oppermann, die Krankenschwestern Viola Adelt und Angela Bertram und die ÄrztInnen Brigitte Ludwig, Bernd Richter und Norbert Neumann. Sie alle hatten sich 1987 aus Gewissensgründen geweigert, an der Entwicklung eines Medikaments mitzuarbeiten, das im Atomkrieg eingesetzt werden könnte. Daraufhin entließ Beecham-Wülfing, eine Tochterfirma des britischen Pharmakonzerns Beecham, zwei Ärzte und die beiden Krankenschwestern, Neumann und Oppermann kündigten selbst.
Brigitte Ludwig und ihr Kollege Bernd Richter, damals Leiter der Abteilung Humanpharmakologie bei Beecham-Wülfing, sollten ein Präparat mit der internen Bezeichnung BRL 43694 weiterentwickeln, das Brechreiz lindert. Sie stellten fest, daß das Anti-Brechmittel (Anti-Emetikum) nicht nur in der Krebstherapie, bei Seekrankheit oder Migräne eingesetzt werden sollte. Aus Firmendokumenten und Gesprächsnotizen ging hervor, daß Beecham sich den größten Absatz („huge market“) für das neue Mittel von der Nato versprach: Furchtbare Übelkeit und Erbrechen sind die ersten Symptome der akuten Strahlenkrankheit. Gestärkt mit Medikamenten wie BRL 43694 jedoch, so das Kalkül der Militärplaner, können auch schwer verletzte, verstrahlte Soldaten weiterkämpfen. Die Beecham-Manager beschlossen, „der Entwicklung von BRL 43694 die höchste Priorität weltweit einzuräumen“.
Daran wollten sich die Neusser RebellInnen nicht beteiligen. Sie könnten ihr „Gewissen nicht spalten“ und den militärischen Einsatz des Medikaments verdrängen. Sie baten die Geschäftsführung um andere Arbeit - und wurden gekündigt. Ihre Klage auf Wiedereinstellung wiesen das Amtsgericht in Mönchengladbach und in zweiter Instanz das Landesarbeitsgericht in Düsseldorf ab. Beide Gerichte bestätigten aber die militärischen Anwendungsmöglichkeiten von BRL 43694, die auch Beecham-Wülfing damals nicht bestritt.
Daß das Anti-Emetikum „nicht für militärische Zwecke erforscht wird“, tat Beecham erst am 24. Mai 1989 kund. An diesem Tag fällte der Zweite Senat des Bundesarbeitsgerichts in Kassel in Sachen Beecham-Wülfing ein Grundsatzurteil: ArbeitnehmerInnen dürfen sich aus Gewissensgründen weigern, aus ihrer Sicht nicht zumutbare Arbeiten zu übernehmen. Gekündigt werden können sie nur, wenn eine andere Beschäftigung unmöglich ist. Ein großer Erfolg für die NeusserInnen. Jetzt liegt der Fall erneut beim Düsseldorfer Landesarbeitsgericht; es muß nun klären, ob Brigitte Ludwig und ihre KollegInnen bei Beecham hätten anderweitig beschäftigt werden können.
„Wir haben ein Stück Rechtsgeschichte geschrieben“, resümierte Andrea Oppermann. Möglich geworden sei dies auch durch die Unterstützung von Freunden und Gruppen wie der Internationalen Ärztevereinigung gegen den Atomkrieg, der Friedensinitiative in Neuss und, nicht zuletzt, der IG Chemie.
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