Spiel ohne Bremsen auf engstem Raum

■ Leichtpedalo-Eleganz beim Europacup-Halbfinale im Radball: Mit 1:1 und feinster Akrobatik gegen Bicycle-Checks

Wedding. Wer zögerlich mit dem berühmten Finger über der Landkarte kreist, ohne Orte wie Lieme, Stadt Ilm, Möhlin oder Robertsau anzutippen, gehört sicher nicht zum engeren Kreis der Hallenradball-Fans. Eben jene trafen sich am Wochenende in der Luise-Schroeder-Sporthalle, um aus neun Mannschaften im Europacup-Halbfinale drei Teilnehmer für das Finale zu ermitteln.

Wem als technisch Unbedarftem das Fehlen einer Bremse, eine starre Hinterradnabe und eine Übersetzung von 1:1 wenig sagt, der stelle sich ein Rad mit hoher, nach oben gebogener Lenkstange und weit nach hinten gezogenem Sattel vor, das schlicht stehen bleibt, hört man auf, die Pedale zu treten natürlich nur, wenn man, in den Pedalen stehend, hinreichend Körperspannung aufbaut. Widrigendfalls fällt man um oder steigt frühzeitig ab. Das aber ist verboten und führt in der Regel zu einer Ehrenrunde über das kleine Spielfeld, bis der Absteiger nach Überquerung der Torlinie wieder mitfahren darf. Aus diesem Zwang zur Balance auf engstem Raum und mit der Absicht, möglichst mehr Tore als der Gegner zu erzielen, ergibt sich ein rasantes Gleichgewichtsspiel mit vielen stops and gos. Da sind schließlich sämtliche Bänder und Sehnen des sportiven Menschen erfordert.

Techniker also sind gefragt, Leute, die artistisch mit diesem Zweirad umgehen können, sich wenden in jeder Situation und dabei den anderen, wie sage ich's, ähnlichen Ballsportarten verschütteten Grundsatz beachten: „Körperbeherrschung heißt, den Gegener nicht zu verletzen.“ Es war schon erstaunlich anzusehen, wie fair gespielt wurde trotz der Fülle von Verletzungsmöglichkeiten. Wenige Bycicle-Checks, vorsätzliches Rammen oder Festhalten des gegnerischen Fahrgestells - dagegen schön zu beobachten, wie zwei Spieler sich nach einem Preßschlag so leichtpedalig entwirren, daß keiner von beiden vom Sattel steigen muß.

Aus Höchst (Österreich) und Lieme bei Lemgo stammen die Teams, die dem Betrachter das Höchstmaß an Perfektion boten, und deren Begegnung am ersten Tag das schönste Spiel ergab: Zu bewundern waren schnelle und elegante Bewegungen, die kürzesten Wendekreise bei Pirouetten auf dem Hinterrad, das Stoppen mit dem Hinterrad und Schießen mit dem Vorderrad, paßgenau unter die Latte des zwei Meter hohen und ebenso breiten Tores.

Ansatzlos wird der ein Pfund schwere Stoffball voller Seetang, Roß- und Rehhaar geschlenzt und unter Pedalen durchgeschossen. Bewundernswert das Fahren und Sperren ohne Ball - und sogar Kopfballtechnik. Apropos Körperkontakt mit der trägen Kugel: Der Torwart des Zweimannteams fingert zwar hart geschossene Bälle aus dem Winkel, darf aber dabei nicht vom Rad. Ein frontaler Kontakt mit dem Stofftrumm kann zudem schmerzhaft sein - ein Spieler erzählte von seinem zehnminütigen Black-out nach einem Nasenstüber.

Die Trabanten und Skodas auf den Parkplätzen vor der Sporthalle zeigten schon, aus welcher Gegend die lautstärkste Unterstützung für die Radkünstler kommen würde. Angenehm dann doch, daß die Spieler weder biergründigen Aufforderungen („Wir wollen keine Traumbälle, wir wollen Tore“) noch martialischen Vorschlägen aus unlauterem Lokalpatriotismus („Hau weg den Sack“) nachkamen. So blieben gerade die kleinen, verschwenderischen Rituale rund um das Spiel angenehm im Gedächtnis.

Der Luxus, auf dem Hinterrad gaukelnd das Vorderrad um die Lenkerachse kreiseln zu lassen; Radhüpfen durch die Halle, atemberaubend präzises Rückwärtsfahren - die Spieler aus den kleinen Orten ganz groß im Riesendorf.

Rolf M. Richter