Eine Waffenübung en miniature

Dart - aus dem Wintervergnügen königlicher Bogenschützen wurde ein Kneipensport, von dem heute einige Profis leben können, und um den kleinen Pfeil ranken Wissenschaft und Philosophie  ■  Von Ralf Schaepe

Wenn David Laing über Dart erzählt, ahnt der Zuhörer, was er falsch machte, als er seine Pfeile zu zwei Mark fünfundneunzig noch in der Hoffnung auf das London-Board warf, einer der Plastikdarts möge genau in der Mitte landen. Natürlich ist das Zentrum nicht die beste aller Treffermöglichkeiten, aber man zielt darauf: Man ist ja kein Brite.

Während alle Welt mit allem möglichen Schießzeug auf Scheiben zielt, die möglichst im Zentrum zu durchbohren sind, peilen die Briten eine Torte an. Nichtbriten wundern sich: Auf einmal ist es besser, das obere Kreissegment zu treffen, die Zwanzig, und in ihm möglichst jenes kleine Feld, das die zwanzig Punkte verdreifacht. So ein waschechter Dartprofi, ein John Lowe, schafft das locker.

Hat jemals einer darüber nachgedacht, warum wir Menschen außer den Briten - so auf die Mitte fixiert sind? Beizeiten, 1978, war es John Lowe, der es schaffte, ein Spiel mit neun Darts zu beenden. Mit neun Darts! Gespielt wurde „301“, das heißt, 301 Punkte sind die Ausgangsbasis, und jeder Treffer bringt dich - mehr oder weniger - Richtung Null. Natürlich gibt es Schwierigkeiten, Hindernisse, die den sofortigen Vollzug verzögern - die Briten sind schließlich nicht umsonst inoffizielle Weltmeister im Erfinden von verzwickten Regeln.

„Double in, double out“, heißen die Schwierigkeiten. Du mußt erst eine doppelte Punktzahl im kleinen äußeren Ring treffen, damit die folgenden Pfeile überhaupt punkten können. Nicht genug damit. Am Ende, wenn dich meinetwegen noch zwanzig Punkte von der Null trennen, dann reicht es nicht, eine Zwanzig zu werfen: „Double out“ erfordert eine doppelte Zehn.

Eine Zigarettenfirma war es, die 100.000 englische Pfund für den Dartsportler auslobte, der ein Spiel dieser Art mit neun Pfeilen beendet. John Lowe trat an und war keine drei Minuten später um 300.000 DM und den unschätzbaren Ruhm, einer der Großen des Dart zu sein, reicher.

David Laing, seines Zeichens Kneipenwirt im westfälischen Münster, ordnet sich selbst als einen guten Spieler ein, allerdings nicht von der Klasse eines John Lowe oder eines Jockey Wilson, eher ein guter Spieler, wie man ihn in manchem Pub auf der Insel findet.

Das muß erläutert werden: „Es gibt - ohne Ausnahme - kein Pub, in dem nicht ein Dartboard hängt. Das gibt es nicht. Um die Mittagszeit wird ein Mittagsbier getrunken, und dann werden die Biere ausgespielt.“ Und es sei üblich, nach der Arbeit noch auf zwei oder drei Pints in die Kneipe zu gehen. Es könne auch ein Pint sein, in jedem Falle aber werde Dart gespielt.

Laing ist zwar, worauf er besonderen Wert legt, Schotte und kein Engländer, aber er räumt ein, daß diese Regel für ganz Britannien gilt. Es gibt also - ohne Ausnahme - keinen Pub, in dem nicht Dart gespielt wird. Ein echter Volkssport sozusagen, und wem es gelingt, bei den Kreismeisterschaften in die Mannschaft aufgenommen zu werden, der kann sicher sein, daß sein ganzes County mit ihm zittert.

Große Turniere werden sogar im Fernsehen übertragen. Dann aber schien Dart dem Volk nicht mehr zumutbar zu sein. „Bis vor einem Jahr war Dart der Publikumsliebling Nummer eins. Dann kam so eine 'New Wave‘. Der typische Dartspieler ist dickbäuchig und hat sein Bier in der Hand. Das findet man nicht mehr ästhetisch, das hat man vom Fernsehschirm verbannt.“ Nicht überall und nicht vollends, läßt sich zur Beruhigung von Laing sagen, denn Pressesprecher John Knight von BBC-Manchester versprach der taz: Dart wird bleiben, denn: Das Spiel mit den kleinen Pfeilen hat eine lange Tradition, und Traditionen waren im Königreich schon seit jeher schwer zu beseitigen.

Heinrich VIII., so will es die Legende, bekam einst drei vergoldete Spitzen von Bogenpfeilen geschenkt. Der legendäre König grübelte einige Zeit, bis er einen Verwendungszweck für die Dinger fand. Aus einem Faß ließ er den Boden herausschlagen, bemalte ihn und nutzte ihn als Zielscheibe, auf die er jene winzigen Spitzen warf. Das war der Anfang des Dart. Später haben die königlichen Bogenschützen Gefallen an dem Spiel gefunden. Des Winters, so wird es kolportiert, mochten die Streiter Seiner Majestät nicht so gerne bei Sturm und Schnee im Freien üben und warfen deshalb im warmen Schloß oder Stall Darts auf Scheiben, um ihr Gefühl für Ballistik und ihre Konzentration zu trainieren.

So oder so ist Dart eine miniaturisierte Waffenübung, die, vor allem durch die trickreiche Unterteilung der Dartscheibe, zu einer Kunstform entwickelt wurde, der nur durch Filigrantechnik und ein gutes Auge beizukommen ist.

Sechs bis sieben Stunden Training pro Tag seien schon nötig, um einer der Besten zu werden, meint Werner Schiewek, Fachmann und -händler in Sachen Dart. Sechs bis sieben Stunden pro Tag, so viel Zeit liegt nicht für jeden zwischen der ersten und der letzten Pint, nicht für die, die Arbeit haben, und so ist es zu erklären, daß die kultiviertere Variante der Story Vom-Tellerwäscher-zum-Millionär mit Dart zu tun hat.

Arbeitslose, in Britannien wie anderswo, haben Zeit, Zeit im Überfluß, und auf der Insel gehen sie eben in den Pub und spielen Dart. So mancher habe sein Können dabei perfektioniert und sei schließlich groß herausgekommen. „Gewiß sind manche Profis vorher arbeitslos gewesen“, meint Laing, aber verallgemeinern könne man das nicht.

Etwa zehn Darter schöpfen „die Sahne ab“, derweil sie zu den Turnieren wandern, die von Zigarettenfirmen oder Brauereien gesponsert werden. Sie bekommen die Werbeverträge mit den Herstellerfirmen, etwa mit dem Branchenriesen „Unicorn“. Ja, und vielleicht noch weitere zwanzig können einigermaßen vom Dart leben, aber „Millionäre werden sie dabei nicht“.

In der Bundesrepublik gibt es keinen, der vom Dart leben kann, ausgenommen natürlich Fachhändler wie Werner Schiewek, die Wurfwerkzeug der ersten Güte für Preise der ersten Güte an unverbesserliche Darter verkaufen. Wer den Sport wirlich ernsthaft betreiben will, wird auch 135 DM für einen Dartpfeil hinlegen. „Natürlich muß man gut sein, aber die letzten Prozente werden über das Material entschieden“, sagt Schiewek. Da sei der „Flight“, der kleine aufsteckbare Flügel des Pfeils, „wenn der ungenau gearbeitet ist, dreht der Pfeil doch weg“. Und da ist überhaupt eine ganze Menge an Wissenschaft und Philosophie, die zwischen dem Point (der Spitze), dem Barrel (dem Metallschuh für die Spitze) und dem Stem (Verbindungsstück zwischen Barrel und Flight) unterzubringen ist.

„Ich brauche sechs Wochen, bis ich mich an einen Pfeil gewöhnt habe“, versichert Laing. Und jahrelang hat er gebraucht, um herauszufinden, welche Art von Pfeil für ihn die richtige ist. Die spitzen Geschosse wiegen in der Regel zwischen 18 und 25 Gramm und haben ganz unterschiedliche Längen und Schwerpunktverteilungen - es gibt sogar Zwergpfeile, die nicht länger als fünf Zentimeter sind. Ursprünglich wohl als Gag gedacht, werden mit ihnen mittlerweile auch Turniere ausgespielt.

Wenn sich Fachhändler für Dartutensilien in der BRD halten können, muß es auch eine ganze Reihe von Kunden geben. In Münster treffen sich rund 700 Darter in dreißig Mannschaften, um die Plätze in der Münsterliga auszuwerfen. Bundesweit haben sich etwa neuntausend Spieler organisiert, und Schiewek rechnet auf einen Verbandspieler etwa 250 Hobbyspieler. Macht bundesweit mindestens 2,1 Millionen, die auf die Scheibe werfen.

Natürlich sind immer noch viele dabei, die auf die Mitte zielen, aber das wird sich vielleicht ändern, wenn „ein Weltmeister aus Deutschland kommt“. Dann hofft Laing auf einen Boom. Und Werner Schiewek glaubt: „Ganz Deutschland spielt Dart - das hat bisher nur noch keiner mitgekriegt.“