Kurze Zündung - langer Marsch

Nur durch die Hintertüre konnten die chinesischen Machthaber Kreml-Chef Gorbatschow vor fast einem Jahr in die Große Halle des chinesischen Volkes einlassen. Unter den Augen der Weltöffentlichkeit bildete die chinesische Demokratiebewegung auf dem Tiananmen ein undurchdringliches Spalier für den Repräsentanten von Glasnost und Perestroika. Zum ersten Staatsbesuch nach mehr als einem Vierteljahrhundert werden dem chinesischen Ministerpäsidenten Li Peng heute zwar die Kremlpforten offenstehen, doch der Ruf nach Glasnost und Perestroika ist auch in Moskau längst nicht verhallt. Nur zaghaft reagierte am 6. Juni vor einem Jahr der 1. Kongreß der Volksdeputierten. Ohne Opferzahl und Schuldzuweisung wurden die Fakten referiert. Die Erklärung Sacharows zu den Ereignissen sollten infolge eines Tonausfalls zwar nicht den Deputierten zu Ohren kommen, dafür aber dem sowjetischen Fernsehpublikum. Im offiziellen Sitzungsbericht wurde lediglich die Gorbatschow-Bemerkung „Ich kann sie nicht hören“ notiert. Eine Anzahl von Deputierten, die heute der „interregionalen Gruppe“ angehören, formulierte schließlich eine unabhängige Erklärung.

Heute kommt den Ereignissen in China wie in Rumänien bereits symbolische Bedeutung zu: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“, zog Gorbatschow seine Lehre, die ihm heute gerne vorgehalten wird.

Das Fiasko der postkommunistischen Gesellschaften vor Augen - wenn diese nicht in der Lage sein werden, Arbeitslosigkeit und Einkommensdifferenzierung zu kontrollieren - neigten die Diskutanten von „Interforum“ unter dem Motto „Tiananmen ein Zünder?“ eher zum Denken in großen Zeiträumen.

„Mit einer einzigen Massenbewegung ist es in China nicht getan“, konstatierte der für sein antiautoritäres Gebaren berüchtigte Wu Er Kai Xi. Im Frühjahr 1989 nach seinem ungehobelten Fernsehauftritt bei Ministerpräsident Li Peng als Exponent der aufmüpfigen chinesischen Jugend gefeiert, ist Wu Er Kai Xi heute der Prügelknabe der US-amerikanischen Medien. Kapitalismus und hedonistische Lebensweise hätten ihn verdorben und von seinen „viel zu kurz gegriffenen“ Forderungen nach Demokratie und Pressefreiheit sowie der Eindämmung von Korruption entfernt.

Es scheint, als hätte er seine Lektion gelernt. „Die Bewegung war Ausdruck menschlicher Natur, ihre treibende Kraft birgt aber auch die Gefahr der Unreife“, räumte der Uighure ein. In Bulgarien und Polen seien die Bewegungen von Vernunft getragen gewesen. Zudem hätte in den osteuropäischen Staaten Gorbatschow auf der Seite der Menschlichkeit gestanden.

Der Vorsprung der osteuropäischen Demokratiebewegungen, vor allem in Polen, der CSSR und Ungarn sei mit einem chinesischen Sommer noch nicht aufzuholen gewesen, waren sich die Diskutanten einig. Daß indes auch in China der Wunsch nach politischen Freiheiten älter ist, brachte der Franzose Dr. Michel Bonin in Erinnerung. Bereits Ende der siebziger Jahre wurde die Idee, einen sozialistischen Menschen zu kreieren, ad acta gelegt. Damals forderte der bis heute inhaftierte Wei Jingsheng mit der 5. Modernisierung die Umstrukturierung der politischen Institutionen.

1986 sprach die Partei noch selbst von Demokratisierungen. 1988 schlugen Intellektuelle das Modell der kleinen Tiger für China vor, aber die Partei wollte das Monopol auf politische und ökonomische Macht nicht aufgeben. Der offene Brief Fang Lizhis zur Freilassung des politischen Gefangenen Wei Jingsheng im Januar vergangenen Jahres und schließlich die Anerkennung der autonomen Studentenorganisationen waren die letzten Herausforderungen, denen sich der Flügel hinter dem gestürzten Zhao Ziyang auch stellen wollte. Für den Prozeß der politischen Reformen wäre das ein Forschritt gewesen.

Doch mit der Niederschlagung der Demokratiebewegung hat die Partei ihre Legitimität verloren. Und dennoch gilt heute und langfristig das Augenmerk der Bewegung innerhalb der Partei. Wenn sich nicht dort der Widerstand bildet, ist er - bei der quasi-feudalen Verfaßtheit der chinesischen Gesellschaft bei den Kriegsherren zu fürchten.

Simone Lenz