Geschichte als Moritatenbild

In Osteuropa und China sind wir im vergangenen Jahr Zeuge geworden von Ereignissen, die nahezu die Hälfte der Menschheit betroffen haben und für die uns noch jeder Begriff fehlt. Schon die Benennungen sind matte Konstruktionen: la douce revolution, die friedliche Revolution; am merkwürdigsten ist das tschechische samtene Revolution. Ich selbst habe bei so einer Revolution mitgemacht und habe heftige Skrupel, das Wort zu benutzen, nehme statt dessen wo immer möglich Bewegung, Unruhen, Revolte, Aufruhr, Umschwung, Aufstand, Zusammenbruch. Revolution und „unser“ Aufbruch („Aufbruch '89“, „Neues Forum“) sind schon zu abgegriffen; in der Volkskammer hört man aus allen Fraktionen, bis hin zur DSU: Dafür haben wir die Revolution nicht gemacht...

Die Theorie-Armut ist erstaunlich. Es hat den Ideologen die Sprache verschlagen. Alle Begriffskartons aus den politologischen Seminaren sind aufgeweicht und nehmen den Inhalt nicht mehr auf. Generationen lang haben wir als Schulkinder Schwerpunktgeschichte gelernt: das Weltgeschehen als Springprozession von Revolution zu Revolution. Dazwischen verschärften sich die Widersprüche, reifte ständig etwas heran und predigten die Theoretiker: Rousseau, Montesquieu, Bakunin, Marx, Trotzki, Lenin. Alles falsch diesmal, oder doch verdreht.

Die Revolutionen selbst waren durchaus nicht sprachlos: Sie hatten Slogans. Abgewetzte, verbrauchte Versatzstücke.

Auf uralte Ideale griffen sie zurück. Freiheit, Gleichheit, Nation, Volk. Begriffe, deren Inhalt dem Verwender anheimgestellt bleibt. Bei allen wecken sie Emotionen (verschiedenster Art), das Nackenfell sträubt sich wohlig -schaurig.

Der Diskurs war dagegen selbst-identisch. Tautologisch. Wir sind das Volk. Das hätte auch „Wir sind wir“ oder „Das Volk ist das Volk“ heißen können. Nur durchs Skandieren erhält es Sinn: Wir sind das Volk! Dann, synkopisch: Wir sind ein Volk! Dann kommt die Synthese: Wir sind das eine Volk, die anderen sollen sich zum Teufel scheren!

Der eigentümlichen Unkraft der Wörter steht die Macht der Bilder gegenüber. Stehende Bilder, images. Milliarden erleben Geschichte als Videoclip. Primaten sind Augentiere; ihre Emotion wird übers Bild angeheizt. Das war im Mittelalter so, als die Menschen vor den Tafelbildern der Altäre das Unglaubliche im Bild erfuhren. Die Moritatensänger haben diese Kultur bis in die Gegenwart getragen.

Der junge Berliner, der im übermannshohen Zaun der Prager Botschaft hängt, ist so ein Videoclip. Drei tschechische Polizisten zerren an seiner Hose. Auf der anderen Seite greifen die Botschaftsbesetzer durch die Maschen und hält der Botschafter sein aufgeregtes Plädoyer, das die Polizisten kaum verstehen. Auf dem Wege zur Freiheit im Maschendraht verkrallt, die Schergen halten fest, aber greifen nicht wirklich derb zu: der gelähmte Arm der Exekutive, er soll, will bereits nicht mehr zuschlagen. Das ganze Bild statisch, über Minuten, ein endloser Clinch zwischen Herrschern und fliehendem Leibeigenen...

Panzer rollen in Peking

Dann Peking. Das moritatenträchtigste Bild, mit der kamera vom Hotelzimmer aufgenommen, ist jene breite Straße. Eine Kolonne Panzer rollt hinauf, ein junger Mann steht auf der Straße und gibt ein Stopsignal, wie ein Verkehrspolizist. Der erste Panzer schwenkt leicht nach rechts, der Mann macht einen Sidestep nach links. Der Panzer dreht nach links, der junge Mann zwei Schritte parallel nach rechts. Der Panzer steht, überrollt ihn nicht. Ich weiß nicht, wie die Szene endete. Ich glaube, der Panzer ist außen vorbei gefahren, aber das ist nicht so wichtig.

Überwältigend ist hier wiederum das zum Bild geronnene Ereignis: Tollkühn, ohne nachzudenken, der Student, seinem Impuls hingegeben, und hinter dem Sehschlitz der Soldat, der nicht will. Es könnte eine Szene bei Brecht sein, wenn jetzt jeder von beiden ein Couplet ans Publikum hätte. So könnten einst Konflikte enden: Ein jeder hat seinen tollen Auftritt, und keinem geschieht ein Leid.

Wenn wir die Aufstände des Jahres '89 analysieren werden, dann geht es zunächst um den Beitrag von Gesten, Haltungen und spontanen Handlungen. Passive Resistenz zermürbt das System, zwingt ihm ein Fingerhakeln auf, das es niemals endgültig gewinnen kann. Die Flucht Tausender, übers Meer, durch den Zaun, über die Mauer - erlösende Abkehr vom Standbild des schweigenden Gottes. Widerstand, durch Bürgerbewegungen, niemals durch Parteien (die wären sofort geköpft worden), unorganisiert, ideologiefrei, spontane Aggregationen von Menschen, die (wie beim Dammbruch) das Notwendige tun, ohne nach Partei- und Gesangbuch zu fragen.

Später dann läuft alles auseinander, da dürfen wir uns nicht wundern. Der Impuls kann selbstverständlich auch durch neue Unterströmungen ersetzt werden, nationalistische zum Beispiel. Das Syndrom der lahmen Hand bei den Herrschenden: Viele von ihnen sträuben sich vor der ersehnten Erlösung wie der Patient vor dem Zahnarzt. Dort, wo die Revolution gewaltfrei verlief, profitierte sie von heimlichen Sympathien im Apparat, von denen, die den Altersstarrsinn des Systems und seiner Führer satt hatten. Die Selbstfesselung des Systems durch seinen eigenen Schutzapparat, verfangen in den Informationen und handlungsunfähig wie der Gladiator, der in das eigene Fangnetz geraten ist.

Schließlich die Gefangenschaft im Käfig der eigenen Ideologeme. Wieder so ein Clip: Das ungläubige Staunen Schabowskis, als seine Berliner plötzlich nicht mehr beflissen lauschen wie sonst immer, sondern pfeifen und „Aufhören!“ rufen. Oder: die panische, mechanisch beschwörende Abwehrbewegung Ceausescus, als der Jubel der Masse in Empörung umschlägt. Jeder hartgesottene westliche Politiker wäre abgetreten und durch die Hintertür verschwunden. Hätte gewartet, bis sie Hunger bekommen und sich trollen. Aber die hier hatten ihren Marx und Lenin studiert und verinnerlicht. Es ist aus, wenn erst „das Volk“ sich erhebt und auf die Straße geht. Da kann man dann nur noch die Mauer öffnen, damit der Kessel nicht platzt.

Andere haben andere Lektionen gelernt: Hartes Durchgreifen tut im Bürgerkrieg not. Selbstverständlich, in Zelten schlafende Demonstranten auf einem riesigen Platz kann man leicht abräumen, indem man sie etwa mit Wasser aus Feuerwehrschläuchen überschwemmt. Niemand erträgt eine pudelnasse Sit-in-Blockade. Aber es geht ja um den Theatereffekt: Das Moritatenbild blutiger Leichen bringt wiederum den Schauer auf die Rückenhaut und sichert Ruhe für eine letzte irdische Galgenfrist...

Geschichte wie ein comic-strip. Als Folge von „takes“. Mit geweiteten Augen sehen wir zu, unser Begriffsformalismus klappert im Leeren. Ob Konferenzen uns weiterbringen? Vielleicht ist es einen Versuch wert.

Jens Reich

Der Autor ist Professor für Molekularbiologie und Mitbegründer des Neuen Forums.