piwik no script img

„Die Beherrschten haben die Gestalt des Ausländers angenommen“

■ Ein Gespräch mit dem französischen Soziologen Pierre Bourdieu über Immigration, Rassismus und die Schuld der Linken

Pierre Bourdieu ist Frankreichs bekanntester Soziologe, und dazu noch: ein Mann der Linken. Er lehrt am College de France, wurde mit der Reform des französischen Unterrichtswesens betraut und ist seit kurzem auch Herausgeber der europäischen Kulturzeitschrift 'Liber‘.

taz: Die Konservativen in Frankreich kopieren gegenwärtig die nationalistischen Thesen eines Jean-Marie Le Pen, um sich von der Konsensregierung der Sozialisten abzugrenzen. Wird die Front National, nachdem sie jahrelang Schlagworte und Schlagworte und Themen geliefert hat, nun zu einer Kraft, die in einer Koalition mit den Konservativen demnächst Regierungspolitik macht?

Pierre Bourdieu: Ich halte es für gefährlich, das Problem (des Rassismus) in zu engen politischen Begriffen zu fassen, also in der Weise, wie es sich auf dem „Feld der Politik“, im Mikrokosmos von Politikern, Journalisten und so weiter stellt. Ich habe den Eindruck, in dieser Welt existiert die Frage nur insoweit, wie sie durch die Existenz der Front National aufgeworfen wird, die ja durch ihren Diskurs Wählerstimmen, Sitze und Posten bekommt. Deswegen fällt es den Politikern auch so schwer, das Problem anders zu fassen als die Front National.

Aber wie kann über Immigration gesprochen werden, ohne die Sprache der Front National bei Ihnen, der Republikaner bei uns zu verwenden? Es beginnt schon bei dem „Problem“ Immigration...

Ich würde gern etwas weiter ausholen. Das Problem des Ausschlusses stellt sich heute - auf mehr oder weniger dramatische Weise - in den meisten europäischen Ländern, in Deutschland, in England, in den Niederlanden und seit kurzem sogar in Italien. In Frankreich in einer besonderen Form. Aber es ist nicht einfach, die wirtschaftlichen und kulturellen Besonderheiten der nord- und schwarzafrikanischen Immigranten zu analysieren, ohne Gefahr zu laufen, rassistische Stereotypen zu verstärken oder subtiler noch - jene kulturellen und religiösen Unterschiede zu untersstreichen, mit denen gewisse Anhänger des Ausschlusses sich rechtfertigen: Denn was ist ihre „Respektierung der Differenzen“ anderes als eine salonfähige Methode, die Ausgestoßenen in ihrer Lage zu belassen, wo man doch weiß, daß das ausschließliche - oder bestimmende Prinzip dieser Differenzen kein anderes als das des Elends ist. Die Immigranten der zweiten oder dritten Generation aus dem Maghreb sind meistens völlig abgeschnitten von ihren kulturellen, sprachlichen und religiösen Traditionen. Aber der wichtige Punkt ist ein anderer. Bis zu den sechziger Jahren, in denen die Kolonialherrschaft in Nordafrika endete, lebten die Franzosen - einschließlich ihrer Intellektuellen - in der Illusion, daß die Immigranten nur vorübergehend blieben. Das stimmte anfangs auch: Es kamen fast ausschließlich Männer, um in Frankreich für einige Jahre zu arbeiten und ihren gesamten Lohn nach Hause zu schicken. Diese Illusion ist nach und nach zusammengebrochen, weil die Immigranten ihre Frauen und Kinder nachkommen ließen - und blieben: Ihre in Frankreich geborenen Kinder, die „beurs“, sprechen oft nur noch französisch.

Diese Bevölkerung wurde von Krise und Arbeitslosigkeit mit voller Wucht getroffen. Selbst mit den besten Zeugnissen werden sie bei der Arbeitssuche benachteiligt, ebenso bei der Wohnungssuche, wodurch sie in die heruntergekommensten Siedlungen getrieben werden. So entstand eine Bevölkerung, die kollektiv entwertet und stigmatisiert wurde. Dazu kommt noch der schulische Mißerfolg, der - selbst ohne jede diskriminierende Absicht - gerade die sprachlich und kulturell Benachteiligten trifft. All dies (natürlich müßte man es genauer untersuchen) hat, wie bei den Schwarzen in den USA, die Delinquenz gefördert, jene Form des sozialen Kampfes oder des Bürgerkriegs, jene diversen „antisozialen“ Verhaltensweisen, die die jungen Immigranten dem öffentlichen Bann aussetzen. Und davon am meisten „betroffen“ sind - real aber insbesondere in ihren Phantasien - wieder die am meisten Benachteiligten der herrschenden Gesellschaft: die „armen Weißen“...

...die sich außerdem vom Mikrokosmos der Pariser Politiker im Stich gelassen fühlen. Welche Rolle hat das Verschwinden der kommunistischen Partei (KPF) dabei gespielt?

Man weiß ziemlich genau, daß die Front National in vielen Orten, besonders in den Arbeitersiedlungen von Marseille, den Platz der KPF eingenommen hat. Das müßte man im einzelnen untersuchen. Ich möchte nur sagen, das die Tradition des Internationalismus, durch den die Arbeiterbewegung sich auszeichnete (mehr als durch den Antirassismus) und durch die in den dreißiger Jahren ein Faschismus in Frankreich verhindert wurde, sich außerordentlich abgeschwächt hat, seitdem die KPF immer stärker in Mißkredit geriet. Vermutlich aus Sorge um ihren Rückhalt in der Bevölkerung neigt die sozialistische Partei an der Regierung dazu, sich mit großzügigen Erklärungen zufriedenzugeben, in der Art: „Ihr seid bei uns zu Hause“, ohne an wirtschaftliche Konsequenzen zu denken.

Und der im Zuge des Wandels in Osteuropa hochgejubelte Liberalismus wird bestimmt nicht zu einer Renaissance des Internationalismus führen. Heute wird viel zu oft vergessen, daß der Internationalismus eine grundlegende Dimension des Sozialismus ist. Ich fürchte, daß mit dem wahren Sozialismus erst abgerechnet wird, nachdem in ganz Europa die Nationalismen wiederaufgetaucht sein werden; Nationalismen gegen die Ausländer draußen oder die Fremden drinnen, die Immigranten.

Die Linke in Frankreich ist mittlerweile neun Jahre an der Macht, und dennoch sind die Ungleichheiten krasser geworden, die Vorstadtghettos in Paris und anderswo werden größer und die Zahl der rassistischen Überfälle steigt. Was machen die Sozialisten falsch?

Die Linke muß sich zunächst einmal von ihrer Neigung befreien, sich mit humanistischem Blabla zufriedenzugeben oder - in meinen Augen noch schlimmer - mit der bloßen antirassistischen Anklage. Denn damit betritt sie das Gebiet individueller, fast psychologischer Begründungen, was dazu führt, daß moralisiert wird, wo Politik gemacht werden muß. Eine Demagogie, die den Rassismus verwendet, um sich im Tadeln zu gefallen, ist kaum besser als die Demagogie der Rechten, mit der Front National an der Spitze, die den Rassismus für ihre Zwecke nutzt. Um was es doch letzten Endes geht, ist die Solidarität. Aber die Grundlage der Solidarität ist immer national, wenn nicht nationalistisch (was man heute gut beobachten kann, wenn man beobachtet, wie die DDR von den Westdeutschen behandelt wird). Schon jenes Minimum an Solidarität mit den Armen und Entwurzelten, das der Nationalstaat garantieren soll, zerbricht, wenn die Beherrschten die Gestalt des Ausländers annehmen. In Frankreich wird jetzt schon darüber debattiert, 'welche Kosten die Immigranten der Sozialversicherung verursachen‘. Die Linke muß jetzt nicht nur die Integration vorantreiben (das wäre schon mal nicht schlecht), sondern auch eine bedingungslose Solidarität, die nur durch einen neuen Internationalismus zu begründen ist oder - wenn man das vorzieht - durch eine neue Weltwirtschaftsordnung.

Ein großes, schönes Wort. Aber was heißt das konkret?

Die Immigranten stellen die Dritte Welt im Herzen unserer Gesellschaft dar. Jene Dritte Welt, die wir in den reichen Ländern so leicht vergessen, wie der Bourgeois des 19. Jahrhunderts seine Armen vergaß oder wie die „Eliten“ der Dritten Welt ihre Slums vergessen. Genauso, wie der Wohlfahrtsstaat notwendig wurde, als die Herrschenden um des inneren Friedens willen den Beherrschten, die sich immer besser organisierten und Forderungen stellten, ein Mindestmaß an Sicherheit zugestehen mußten, genauso wird uns die Immigration zwingen, den nationalstaatlichen Rahmen zu überwinden und einen wirklichen Weltstaat zu gründen - die alte Utopie der Aufklärer.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen