Die Demagogie des Tempos

Triumph des politischen Willens über Sachverstand und Demokratie  ■ K O M M E N T A R

In der Rhetorik der deutsch-deutschen Innenpolitik hat längst die Metapher des abgefahrenen Zuges alle anderen Hoffnungsworte der Demokratiebewegungen geschlagen. Und auch das ist inzwischen ein weitgehend akzeptierter Zustand: daß nicht der politische Zeitplan die Abfahrt des Zuges, sondern der abgefahrene Zug den Zeitplan bestimmt. Ganze zwei Wochen sind für die deutsch-deutschen Verhandlungen zum Staatsvertrag vorgesehen. Da bleibt kaum Zeit, das Kleingedruckte zu lesen, von einem Zeitbedarf für eine demokratische Auseinandersetzung ganz zu schweigen. Nachdem die Bonner Regierungskoalition an dem Punkt, an dem alle komplizierten Fragen der deutschen Einigung zu einer fiktiven Klarheit sich zu bündeln scheinen, an dem Punkt des Umtauschkurses 1:1 nämlich, der Regierung de Maiziere entgegengekommen ist, wird es keinen Halt des abgefahrenen Zuges mehr geben. Mit ihrer Entscheidung für die „Eckdaten“ des Staatsvertrages hat die CDU/FDP-Koalition deutlich gemacht, daß sie alles tun wird, damit die Ostberliner Regierung nicht als Wahlbetrüger dastehen wird. Je mehr Bonn die populistischen Bedürfnisse aus der DDR honoriert, desto enger wird der Verhandlungsspielraum von de Maiziere sein. Der Zug fährt, wer will da noch vom Zustand der Geleise reden.

Trübe Ironie beherrscht die deutsche Einigung: Triumph des politischen Willens über Sachverstand und Demokratie. Noch nie hat eine Bundesregierung soviel politisches Abenteuertum in Kauf genommen, um einem Wählerwillen gerecht zu werden. Weder Finanzbedarf noch Finanzierung dieser Währungsunion ist gesichert. Noch gibt es auch nur den Versuch, durch einen Konsens diesen Währungsunions-Voluntarismus abzusichern. Die Mehrheit der Bundesbürger, die lieber nicht teilen wollen und sich für einen Kurs 2:1 ausgesprochen haben, müßte doch politisch überzeugt werden. Oder glaubt man, daß das freie Spiel des Wohlstandsrassismus die innerdeutsche Ordnung schon herstellen wird? Ganz abgesehen davon, daß sich die DDR-Bevölkerung mit den Konsequenzen eines 1:1-Kurses auseinandersetzen muß. Dieser Kurs erlaubt schließlich keine Übergangs- und Schonfristen mehr. Die Bevölkerung wird zwar „Valuta-Mark“ vor den Sommerferien in der Hand haben, aber dafür sind der DDR schon vorab alle Chancen genommen, die Ideen einer sozial gerechteren Gesellschaft in einer Verfassung abzusichern.

Natürlich war die DDR-Wahl eher ein Plebiszit für D-Mark und nicht die Wahl parlamentarischer Parteien. Das Wahlverhalten hatte allerdings mehr mit der „erlernten Ratlosigkeit“ des Realsozialismus zu tun, war mehr eine „Eingabe“ der DDR-Bevölkerung an Bonn, als Ausdruck eines demokratischen Engagements. Es war ein Plebiszit für den DM -Egalitarismus - die D-Mark als der sinnlichste Ausdruck, daß es künftig nicht mehr Deutsche erster und zweiter Klasse geben wird. Daß es in einem Teil mehr Arbeitslose geben wird als im anderen Teil Deutschlands, daß eine gespaltene Gesellschaft aus der Währungsunion entspringen wird, steht auf einem anderen Blatt. Wenn jetzt Bonn das Wahlergebnis zur Maxime seines Handelns macht, dann ist das nicht Ausdruck demokratischer Gesinnung. Es ist vielmehr der sichere Instinkt, daß es vor allem dann die Stunde der Exekutive sein wird, wenn sie sich in Schicksalsfragen der Nation direkt mit dem Plebiszit verbindet. Kohl organisiert nichts anderes als die Entmachtung der politischen Sphäre, die Lähmung der legislativen Gewalt und die Aushöhlung der verfassungsrechtlichen Bindung der Politik. Das Bonner Parlament wird bestenfalls noch zum Staatsvertrag gehört werden; die Ostberliner Volkskammer ist als Legislative eine Fiktion, wenn man bedenkt, daß praktisch die Gesetzessystematik der Bundesrepublik durch den Staatsvertrag oktroyiert wird.

Einer solchen Politik hat die DDR-Regierung weidlich entgegengearbeitet. Der Koalitionsvertrag und die hochgelobte Regierungserklärung de Maizieres haben zwar ein langfristiges Reformprogramm für die DDR entworfen. Nur über den Haushalt und die Finanzierung dieses Programms ist nichts herauszulesen. Mit anderen Worten: sie haben eine unverbindliche Willenserklärung abgegeben, aber praktisch sich schon auf den Souveränitätsverlust eingerichtet. Von ihr wird es keinen Widerstand gegen die rollenden Räder des abgefahrenen Zuges geben. Mit noch nie dagewesener Leichtfertigkeit bewältigen die Bonner Politiker die Gegenwart und die Bürde der Zukunft wächst. Nach der Währungsunion die Sintflut.

Klaus Hartung