Echte Freundschaft will nicht aufkommen

Der Besuch des chinesischen Ministerpräsidenten in Moskau  ■ G A S T K O M M E N T A R

Gorbatschows Chinareise im vorigen Mai, die der chinesische Ministerpräsident Li Peng seit gestern mit einem Besuch in Moskau erwidert, hat Diplomatiegeschichte gemacht: Selten haben sich Gastgeber eines Staatsbesuchs so blamiert. Deng Xiaoping und seine Mannschaft wollten nicht nur die Beziehungen mit den Moskauer Halbbrüdern normalisieren, sie wollten dem Revisionisten Gorbatschow vor allem auch vorführen, was eine erfolgreiche Wirtschaftsreform ist und wie man ein großes Reich an der Kandare hält, ohne sich von Dissidenten und Separatisten auf den Kopf spucken zu lassen.

Statt dessen erlebte ein feixender Gorbatschow Demonstrationen gegen Inflation und Korruption und eine Demokratiebewegung, die die Staatsmacht in ihrer eigenen Hauptstadt lahmlegten.

Es hat die Beliebtheit Gorbatschows bei Chinas alten Herren gewiß nicht erhöht, daß er sie im Zustand fast tödlicher Ohnmacht gesehen hat. Li Peng, der das Massaker organisiert hat, mit dem sie ihre Demütigung rächten, muß der weltläufige, flexible Charakter Gorbatschows ein Greuel sein.

Wenn er dennoch begierig war, nach Moskau zu reisen, und dort mit seinem sauren Lächeln erklärt, er wolle alte Freundschaften wiederbeleben, dann nicht nur, weil die chinesische Führung in ihrer augenblicklichen Isolierung bereit ist, für internationale Anerkennung jede Kröte zu schlucken. Es geht auch nicht nur darum, durch ein paar Abkommen über Truppenabbau, kleinen Grenzverkehr und Warenaustausch die Rivalität der benachbarten Großmacht zu neutralisieren.

Wie alle konservativen Politiker sieht Li Peng die Krise seiner Herrschaft als das Werk äußerer Mächte, hier der besonders infamen „Strategie der friedlichen Evolution“ der USA und ihrer Verbündeten zur Zersetzung des sozialistischen Lagers, die die chinesische Propaganda seit Monaten beschwört. Er wird versuchen, Gorbatschow in ein strategisches Bündnis zur Verteidigung der beiden wankenden Großreiche gegen diese äußere Gefahr zu ziehen.

Anknüpfungspunkte hierzu hat Gorbatschow in letzter Zeit reichlich geliefert: die Rezentralisierung der Staatsmacht durch die neue Präsidialverfassung der UdSSR, die Weigerung, die zentralstaatliche Kontrolle über die Schlüsselbereiche der Wirtschaft preiszugeben, die Bereitschaft, gegen rebellische Kaukasusvölker mit Panzern, gegen sezessionierende Nordeuropäer zumindest mit Wirtschaftssanktionen vorzugehen. Das alles hat das Ansehen des sowjetischen Präsidenten in den Augen der chinesischen Führer wieder gehoben, auch wenn sie den Rückzug der Sowjetunion aus ihrem strategischen Sicherheitsgürtel in Europa und die begrenzte Gewährung bürgerlicher Rechte wie Meinungsfreiheit und Parteienpluralismus für unverzeihliche Fehler halten.

Ein dauerhaftes strategisches Bündnis Sowjetunion-China ist aber nicht nur wegen der unterschiedlichen Temperamente Li Pengs und Gorbatschows oder wegen rein taktischer Differenzen unwahrscheinlich. Beide Staaten sind Völkergefängnisse. Aber sowohl das wirtschaftliche und soziokulturelle Entwicklungsniveau der unterworfenen Völker wie die wirtschaftlichen und politischen Machtverhältnisse in Europa setzen der Willkür der sowjetischen Herrschaft Grenzen. Der Einsatz von Panzern konnte in Peking, aber auch in Armenien und Aserbaidschan vorübergehend Ruhe schaffen. In Leipzig und Vilnius wären die Folgekosten heute unkalkulierbar.

Gorbatschow wird sich auf den chinesischen Weg nur bedingt einlassen können. Nicht, weil er kein Despot ist, sondern weil er ein aufgeklärter Despot ist. Das verstärkt die Hoffnung auf das Ende des archaischen Despotismus in China.

Jochen Noth

Der Autor hat neun Jahre in China gelebt.