Rostock übt sich in neuer Demokratie

Wie Christoph Kleemann (Neues Forum) in Rostock als Bürgermeister amtiert / Das potemkinsche Dorf an der Wand und die West-Caravans vor der Rathaustür / Reale Schritte zur Einübung von Demokratie gegen eine real existierende Mentalität  ■  Aus Rostock Uta Stolle

Als der langjährige Rostocker Bürgermeister Henning Schleiff (SED, dann PDS) seinem Widersacher aus der neuen Demokratiebewegung, dem Pastor Christoph Kleemann, das Amt übergeben mußte, hinterließ er ihm ein ironisches „Na, dann regiert mal schön.“ Die Sekretärin zieht die Rosetten-Stores jeweils mit einem entschiedenen kleinen Ruck wieder zu, wenn Kleemann sie in seinem Drang nach Licht und Transparenz mal ein wenig geöffnet hat. Daß der anschwellende Strom der direkt Hilfe Suchenden nicht mehr nach St.Nirgendwo verwiesen werden darf, muß sie als formulierten Willen des Amtierenden hinnehmen. Daß aber der Blick vom Neuen Markt, heute Ernst-Thälmann-Platz, ungehindert ins Allerheiligste dringen können soll, darin kann die Frau mit dem undurchschaubaren blauen Blick nur ein schnell zu behebendes Versehen vermuten.

Rostock ist die erste und einzige Großstadt der DDR, die sich die alte SED-Herrschaft noch vor der Kommunalwahl vom Hals geschafft hat, der Runde Tisch legitimierte Kleemann als „amtierenden Bürgermeister“. Um ihn herum herrscht in den Räumen des alten Rathauses Luftanhalten, Lauern und Mauern. Der übergeordnete Rat des Bezirks stellt sich tot, wartet ab. Bei ihm hatte die Regierung Modrow einen Bericht über die Vorgänge bestellt. Der Kollege Oberbürgermeister aus Schwerin erscheint auf einem Fest, obwohl angekündigt, lieber nicht. Glückwünsche zur Amtsübernahme kamen von den gewendeten PDS-Kollegen nicht, nur aus der Bundesrepublik, von der Partnerstadt Bremen. Aber die konnte mit dem alten OB auch trefflich.

7 Uhr früh. An dem U-förmigen Tisch im Ratssaal trifft sich die „Kommission“, 19 neue Stadträte, darunter drei Frauen. Oben an den hell getäfelten Holzwänden triumphiert der real nie existierende Sozialismus als monumental fotografiertes potemkinsches Dorf. Neben Bombenzerstörung das Licht der Befreiung der sowjetischen Panzer auf dem Podest, aufragende Neubauten, aufragender Mann mit Faust, das Volk, fotografiert aus Tribünenperspektive, glücklich, jung, männlich stubbelköpfig. Um den U-förmigen Tisch die real existierenden Trümmerfrauen und -männer bei den Aufräumarbeiten eines zerschellten Systems. Im Bereich der Wohnungspolitik herrscht das blanke Chaos, berichtet Gisela Jacobs vom Neuen Forum. Da stehen die Rückkehrer und wollen eine Wohnung, sofort und möglichst groß. „Da muß was von oben kommen, wir brauchen eine gesetzliche Grundlage.“

Vier „Kommissarische“ teilen sich in das Ressort des zum Rücktritt genötigten Schulrats Bendlin. Eine von ihnen berichtet von einem als Lehrer eingestellten Stasi-Mann. „Eine harte Nuß“, sagt Karin Kunze. Er will keinem Auflösungsvertrag zustimmen. Damit, daß fünf Eltern mit Unterrichtsboykott drohen, könne er leben, hat er gesagt. Kleemann weist auf das menschliche Problem hin, daß so jemand eine Familie zu ernähren habe, und außerdem habe er einen rechtlich verbindlichen Arbeitsvertrag. Man solle versuchen, eine geeignete Ausweicharbeit zu finden. Vorsichitger Widerstand der SPD-Kommissionäre. Wenn zum Beispiel der Direktor der Neptun-Werft seine in Aussicht gestellten Entlassungen wahr mache, dann „kommt eine Welle auf uns zu bis zum 6. Mai, die uns ersticken kann“. Und da werde die Frage gestellt, warum bringt ihr den Stasi-Mann unter und nicht unsere Leute von der Werft... Den Oberbürgermeister beeindruckt das nicht. Soziale verantewortung auch für den politischen Gegner, Rechtsstaatlichkeit, darauf insistiert er. Der Spielraum für Veränderungen bis zum 6. Mai ist gering, nicht zu gering aber für die Einführung demokratischer Verkehrsformen.

Berichte über das Treiben der PDS in den Betrieben werden am Tisch gegeben. Sie spielt die Rächerin der Enterbten und agitiert für Streik, während der Direktor der Neptun-Werft Manchesterkapitalismus probt.

9 Uhr. Im Zimmer des Oberbürgermeisters warten die neuen Mächte in Gestalt der Industrie- und Handelskammer (IHK), die gerade mit Unterstützung aus der Partnerstadt Bremen gegründet wurde. Die Herren beanspruchen massiv zwei große Villen in der Ernst-Barlach-Straße. Kleemann informiert: die Häuser sind der Außenhandelsbank versprochen. Die Herren sind empört. Der IHK gebühre „oberste Priorität“, machen sie klar, ein Platz an repräsentativer Stelle. So wie in Bremen am Marktplatz. Dies ist ein Argument der unantastbaren Art.

Draußen vor dem Rathaus machen wild parkende westdeutsche Caravans dem erwarteten Kieler OB das Parken unmöglich. Die von Kleemann um Hilfe gebetene Volkspolizei mauert. Zur gleichen Zeit erscheint im Amtszimmer der 25. Hilfesuchende an diesem Morgen. Er ist verstört, hochgradig behindert, wohnt in einem Wohnwagen. Der Amtierende hat darauf verzichtet, „solche Leute“ mit der Polizei rauszuschaffen. Er wird am nächsten Morgen eine Mitarbeiterin der Komission zu ihm schicken.

Am Abend, als das Neue Forum unter anderem auch Christoph Kleemann als Kandidaten für die Kommunalwahl aufstellt, wird ihm die bange Frage gestellt: Machst Du weiter? „Es klingt zwar albern“, sagt er, „aber es macht mir sogar Spaß. Ich habe das Gefühl, ein bißchen was zu bewegen.“