20.000 DDR-Jugendliche ohne Job

■ „Jugendarbeitslosigkeit ist Desinvestition in Humankapital“ / Jugendforscherin aus der DDR auf Bremer Tagung

„Jugendarbeitslosigkeit blockiert den Prozeß der eigenen Identitätsfindung und der gesellschaftlichen Integration und stellt eine extreme Form des Nichtgebrauchs menschlicher Fähigkeiten, dar. Bei arbeitslosen Jugendlichen steht nicht die Verlusterfahrung an Arbeit im Vordergrund, sondern die Verweigerung, in die regulären, früher für normal gehaltenen Lebensmuster hineinwachsen zu können“, stellt Dr. Gisela Thiele fest. Gisela Thiele arbeitet am „Zentralinstitut Jugendforschung“ in Leipzig, das dem Büro des Ministerrates unterstellt ist und sich seit 23 Jahren wissenschaftlich mit den Problemen von Jugendlichen beschäftigt. Jugendarbeitslosigkeit ist für das Institut als Forschungsschwerpunkt so neu wie das Phänomen für die DDR überhaupt. Die DDR-Jugendexpertin referierte gestern auf der Tagung der „frei geförderten Bundesjugendplanmodellprojekte“ zum Tagungsschwerpunkt Jugendarbeitslosigkeit in den 90igern vor dem Hintergrund der deutsch/deutschen Entwicklungen.

Die rund 2,8 Millionen junger Menschen zwischen 14 und 25 Jahren, in eine Zeit „gesellschaftlicher Sicherheit hineingeboren“, sähen sich nun, „in der Phase ihrer intensivsten Sozialisation“, mit einer „fast aussichtslosen Situation des Staates DDR“ konfrontiert. Das „Recht und die Pflicht, einen Beruf zu erlernen“, waren verfassungsrechtlich garantiert.

Rund 200.000 Jugendliche der DDR verließen jedes Jahr die zehnklassige allgemeinbildende Schule, wovon 80 % sofort mit ihrer Berufsausbildung in den Berufsschulen begannen. 15 % der Schulabgänger erwarben das Abitur, die restlichen 5 % wählten ein Fachschulstudium zur Vorbereitung auf Tätigkeiten in Volksbildungs- und Gesundheitswesen oder in künstlerischen Bereichen.

Vor diesem Hintergrund schilderte die Mitarbeiterin des Instituts für Jugendforschung den Ist-Zustand, wie er von westlichen Stellen noch kaum erfaßt ist: Von derzeit rund 65.000 Arbeitslosen sind nur 28.000 beim Arbeitsamt gemeldet, Arbeitslosenunterstützung erhält nur ein Drittel. Knapp 20.000 Arbeitslose sind jugendlich: 11.000 sind Abiturienten, die keine Studienplätze erhalten, weil Studienrichtungen gestrichen oder Studentenzahlen verringert wurden. Etwa 700 Jugendliche bekamen keine Lehrstelle oder mußten ihre Ausbildung abbrechen, weil ihre Betriebe geschlossen wurden.

„In diesem Alter von Arbeitslosigkeit betroffen zu sein, bedeutet im volkswirtschaftlichen Maßstab gesehen, Ressourcenverschwendung und Desinvestition von Humankapital. Jugendarbeitslosigkeit ist nicht nur Produktionsausfall heute, sondern Wachstums- und Wohlfahrtseinbuße in der Zukunft“, erklärt Thiele.

Formal besitze das Arbeitsgesetzbuch der DDR zwar noch seine Gültigkeit, führt die Jugendforscherin aus, finde aber kaum noch Anwendung in der Rechtssprechung. Dadurch sei der Freiraum der Betrieb so groß, daß sie zuerst Arbeitskräfte kündigen, die „unbequem“ waren oder bisher unter Schutz standen, wie Invaliden oder alleinstehende Mütter: 15% wurden bisher unter Verletzung des noch gültigen Arbeitsgesetzbuches entlassen.

Nur in den ersten Wochen sei arbeitslosigkeit in der DDR ein „Filterungsprozeß“ gewesen, der das Beschäftigungsrisiko auf Gruppen verlagerte, die häufig schon eine problematische Sozialisation bzw. Vermittlungshemmnisse mitbringen. Das betreffe in erster Linie Assoziale, Alkoholiker, notorische Arbeitsbummelanten, meint Thiele. Mit den Strukturveränderungen nach der Währungsunion werde eine Welle der Massenarbeitslosigkeit folgen: DDR-Ökonomen gehen von 2,5 bis 4 Mio.

ra