„Es gibt in der Bundesrepublik einen Antisemitismus ohne Antisemiten“

Der Leiter des Instituts für Antisemitismusforschung, Herbert Strauss, geht wieder zurück nach New York / „In der Bundesrepublik gibt es einen verdeckten und latenten Antisemitismus“  ■ I N T E R V I E W

In einer Feierstunde hat die Technische Universität am vergangenen Freitag den 71jährigen Leiter des „Instituts für Antisemitismusforschung“, Prof. Herbert Strauss, verabschiedet. Sein Nachfolger wird Prof. Wolfgang Benz aus dem „Institut für Zeitgeschichte“ in München. Die taz sprach mit Herbert Strauss über das Leben in Berlin und über den Antisemitismus in der Bundesrepublik.

taz: Sie verlassen jetzt Deutschland zum zweiten Mal. Das erste Mal wurden Sie, nachdem Sie sich zehn Monate in Berlin verstecken konnten, 1943 von der Gestapo festgenommen, es gelang Ihnen aber zu flüchten. Sie retteten sich in die Schweiz und emigrierten 1946 in die Vereinigten Staaten. 1943 verließen Sie Deutschland als Zwangsarbeiter und verfolgter Jude, heute gehen Sie als geehrter Professor. Mit welchen Gefühlen sind Sie 1982 nach Berlin zurückgekommen, und mit welchen fahren Sie wieder ab?

Strauss: Die Entscheidung, wieder in Deutschland zu leben, war natürlich ein schwieriger Entschluß, aber kein ganz neuer Schritt, denn seit den sechziger Jahren haben mich viele wissenschaftliche Reisen nach Deutschland geführt. Meine Frau und ich sind in die Bundesrepublik mit sehr vielen Vorbehalten gekommen. Ich habe mich sehr bemüht, meine doch oft sehr kritischen Ansichten über das, was da aus der Nazizeit so überlebt hat, nicht in den Mittelpunkt meiner Aufmerksamkeit zu stellen. Aber die Hauptschwierigkeit war, daß wir in eine Situation zurückkamen, in der Leben abgebrochen war. Die Menschen, mit denen wir bis 1943 befreundet waren, sind umgebracht worden. Gefühlsbeziehungen gab es nicht mehr. Die Schwierigkeit war, das in unser Leben einzubauen. Man kann diese Dinge nicht überwinden, wenn man sie nicht in sinnvolle Tätigkeiten für die Zukunft einbaut. Das ist mir, glaube ich, mit diesem Institut und den vielen jungen Kollegen hier gelungen. Diese acht Jahre in Berlin waren eigentlich eine positive Erfahrung.

Aber das Leben besteht doch nicht nur aus Arbeit?

Ja, aber ich bin der Meinung, man sollte Hitler so viele Jahre nach seinem Tod nicht das Recht geben, das eigene Gefühlsleben zu kontrollieren. Die Schwierigkeit der Vergangenheit kann für beide, für Juden und Deutsche, nicht ausgewischt werden, aber was wir damit machen, das hängt von uns ab. Es ist wichtig, daß die Last der Vergangenheit nicht in einen Zwang, die Vergangenheit ständig zu wiederholen, umgewandelt wird. Die Bundesrepublik hat insgesamt eine positive Entwicklung zu einem liberal-demokratischen Staat gemacht. Es ist daher wichtig, daß man in die Sicht der Gegenwart die Vergangenheit konstruktiv einbaut. Das ist schwer, denn zwischen Deutschen und Juden geht nichts glatt. Wir haben uns bemüht, wir haben gelernt und Freunde gefunden, und jetzt fällt es meiner Frau und mir sogar ein bißchen schwer, wieder zu gehen.

In Berlin haben Sie das „Institut für Antisemitismusforschung“ aufgebaut und acht Jahre lang geleitet. Es ist heute ein Institut mit internationalem Renommee und unterscheidet sich von Judaistic- und Zeitgeschichtsinstituten erheblich. Was ist das Spezifische an dieser Einrichtung?

Der Zweck des Instituts war, als ich 1982 hier ankam, von der Universität vorgegeben. Meine Aufgabe war es, die Einrichtung interdisziplinär aufzubauen und mich mit dem modernen Antisemitismus, d.h. mit dem Antisemitismus des späten 19. und 20. Jahrhunderts wissenschaftlich zu beschäftigen. Es ist kein „Civil Right Institut“, wie die „National Association for the Advancement for Colored People“, für das ich in New York gearbeitet habe und wo ich als Überlebender es für meine moralische Pflicht gehalten habe, mich für die Menschen einzusetzen, denen es schlechter geht als mir. Das hier ist in erster Linie ein Forschungsinstitut, obwohl klar ist, daß man sich nicht mit dem Antisemitismus beschäftigen kann, ohne die Öffentlichkeitsbedeutung, die dieses Thema hat, zu vernachlässigen. Wir haben also ein Institut aufgebaut, in dem sozialwissenschaftliche, historische, psychologische und politikwissenschaftliche Fragen und Forschungsansätze integriert werden zu einer Analyse des Vorurteils.

Welche Bedeutung hat eine Analyse des Vorurteils heute für die wissenschaftliche Untersuchung des Antisemitismus?

In Amerika sind wir darauf gestoßen, daß die Vorurteilsforschung ein wichtiges sozialwissenschaftliches Problem ist, um das Verdeckte in der Gegenwart zu erkennen. Das heißt, wir müssen wissen, wie sieht das Vorurteil aus, wie das Verhältnis zwischen Vorurteil und Vorverurteilten, gibt es Grundlinien und Kontinuitäten des Vorurteils, können die individuellen Vorurteile in eine Massenbewegung umschlagen. Unter dem Aspekt Vorurteilsforschung haben wir uns mit dem Antisemitismus in der Bundesrepublik beschäftigt, den wir im Unterschied zu dem „modernen Antisemitismus“ ab 1880 den „neuen Antisemitismus“ nennen.

Was unterscheidet den modernen vom neuen Antisemitismus?

In der Öffentlichkeit spielt der Antisemitismus als mobilisierendes und ideologisches Element keine Rolle mehr, er ist nicht mehr modern. Kein Politiker kann heute eine Massenpartei aufbauen, in der ein rassisch begründeter Antisemitismus als eine die Wähler integrierende Ideologie benutzt wird. Das war bei den Nazis aber der Fall. Ein Kennzeichen des modernen Antisemitismus war, daß Krisen, soziale Spannungen, Klassenkämpfe, die Angst vor dem Kommunismus, auf die Juden projiziert worden sind, sie die Sündenböcke waren. Das geht nicht mehr, weil die Juden heute in der ganzen westlichen Welt in einer Weise integriert und akzeptiert sind, wie sie es in Deutschland in der Weimarer Republik nie waren. In der Bundesrepublik gibt es außerdem zuwenig Juden. Zusammengefaßt, es fehlen die Ursachen des modernen Antisemitismus, er ist nicht mehr gesellschaftsfähig, denn der Antisemitismus wurde durch den Holocaust diskreditiert, und es fehlen die Juden, vor denen man Angst hat. Aber, und das ist das Neue, es gibt in der Bundesrepublik einen Antisemitismus ohne Antisemiten. Das haben wir mit Hilfe der Vorurteilsforschung herausgefunden.

Sie behaupten, es gibt in der Bundesrepublik einen latenten, einen verdeckten Antisemitismus. Wie findet man den und mißt ihn?

Wir haben 1987 eine Meinungsumfrage erstellt und uns dabei diesem Problem des nicht artikulierten Antisemitismus angenommen. Ausgeführt wurde die Umfrage vom Institut für Demoskopie Allensbach. Das war wichtig, weil Allensbach anerkannt ist. Wir haben 20 Fragenkomplexe mit jeweils bis zu hundert Unterfragen ausgearbeitet. Wir haben viele indirekte Projektionsfragen gestellt, beispielsweise, was denken Sie, was die Juden über die Deutschen denken, oder was denken Sie, was Ihr Nachbar über die Juden denkt. Herausgefunden haben wir, und darüber erscheint demnächst ein Buch, daß 15 Prozent aller Deutschen über 16 Jahren, starke oder vehemente antisemitische Vorurteile haben. Dieser neue Antisemitismus zeichnet sich dadurch aus, daß das rassische Stereotyp und das religöse Vorurteil, die Juden als Christusmörder, keine große Rolle mehr spielt. Die Idee des Weltjudentums und die des geschäftstüchtigen Juden ist noch da, aber das Entscheidend Neue ist die „Schlußstrichmentalität“.

Ist es antisemitisch, von der Nazivergangenheit nichts mehr wissen zu wollen?

Die psychologischen Bedürfnisse der Juden widersprechen völlig den psychologischen Bedürfnissen der Deutschen. Auf der jüdischen Seite ist die Geschichte ein Trauma, mit der sie nicht fertig wird und die sie deshalb ständig wiederholt. Auf der deutschen Seite ist die Geschichte ebenfalls ein Trauma, aber sie soll vergessen werden, damit es nicht schmerzt. Dieser Dialog mit der Geschichte ist im wesentlichen ein Dialog mit dem eigenen Gewissen. Viele Deutsche tragen die Last und die Scham der Väter und Großväter, aber sie wollen nichts damit zu tun haben. Das Unlustgefühl des Schämens wird zu einem Ressentiment gegen die, die die Scham verursachten. Es ist ein sekundärer Antisemitismus, der mit den Juden direkt gar nichts mehr zu tun hat. Hoffnung gibt uns, daß bei der Auswertung der Fragebogen klar zu sehen war, daß es eine Korrelation zwischen Alter und Bildung gibt. Je jünger und gebildeter, desto weniger anfällig für antisemitische Stereotypen.

Würden die Ergebnisse Ihrer Umfrage anders ausfallen, wenn die Bevölkerung der DDR auch gefragt worden wäre?

Ja, die Entwicklung in der DDR und im ganzen Ostblock wird sich das Institut in der nächsten Zeit genau ansehen. Das besondere Problem in der DDR ist, daß den Kindern, Jugendlichen und Studenten eine Theorie vermittelt wurde, die sie gar nicht dazu zwang, über Deutschland nachzudenken. Der Antisemitismus und der Nazismus waren immer nur Verwerfungen des Monopolkapitalismus. Der erste hoffnungsvolle Schritt war jetzt, daß die Volkskammer erklärt hat: „Ja, auch wir sind schuldig.“

Interview: Anita Kugler