SPRECHENDES AUGENOHR

■ Das „Brüssel Projekt“ spielt „Lena 'tells“ im Bethanien

Wie war das noch gleich? Die Arbeit an der Erinnerung zottelt eine große Halle an die Oberfläche. Die Halle gehört zum Institut für Wasserbau und Strömungstechnik an der Technischen Universität Berlin. Grundsätzliche Fragen: Warum strömt eine Strömung, wie sie strömt? werden hier aufgeworfen und mit Hilfe von Modellbauten beantwortet: Eine riesige Kiste mit verschiedenen Erden, Steinen, Holzstückchen gefüllt. Wasser mit unterschiedlichen Mengen an Feststoffen wird in diese Kiste geleitet, auf daß das Schauspiel einer Flußmäanderung im Zeitraffer erlebt werden kann.

Hinter dieser Modellflußlandschaft hatte man eine provisorische Bühne errichtet. Darauf spielte das Brüssel -Projekt mit acht Sängern, Tänzern und Sprechern eine Untersuchung über zwei Wissenschaftler bei der Arbeit. Das war 1988. Was diese Wissenschaftler gearbeitet haben, will die Erinnerung nicht hergeben. Vielleicht liegt es daran, daß sich das Ausgesagte von der Bühne herunter weniger um inhaltliche Essenzen als vielmehr um symphonische Dichte der sprachlichen Realität bemühte. Um im Bild zu bleiben: Der Wörterfluß strömte so vor sich hin und mäandete Sprachlandschaften. Eine wohltuende Abwechslung zur gradlinigen Kanalarbeit der Das-ist-so-Sprache.

Daß das nicht so ist, zumal wenn es war, also bei der immer unsicher wankelmütigen Erinnerung abgerufen werden muß, spielt das Brüssel Projekt derzeit wieder einmal vor. Lena 'tells ist der Versuch, Sequenzen eines alltäglichen Lebens zu rekapitulieren. Stationen dieses Lena -Lebens sind landwirtschaftliche Anlagen mit Bäumen, Schafen und Schweinen: die 70 Aquarien (80 x 40 x 40 cm) ihres Ehemannes, die dieser in der kleinen Wohnung ordentlich in Regalen untergebracht hat; der Bau einer Mauer vor einer oder anstelle einer anderen Mauer - „Beton in die Schalung, es war sagenhaft, sie hatten die Formen mit der Luft verbunden, und so war das Gerüst entstanden„; der letzte Umzug aus der alten in die neue Wohnung; das Adoptionsverfahren ihres Sohnes („Der Tod ist nicht der Natur der Weisheit letzter Schluß, die Einzeller teilen sich ständig und sterben praktisch nur durch Unfälle, gefressen werden, Austrocknen der Pfütze. Protozoen sind potentiell unsterblich, sie lassen bei diesem Prozeß nichts zurück, was einem Leichnam entspricht. Nichts, was einem Leichnam entspricht, sagte er, sagte: Ich hatte einen Sohn, dieser war zu mir gekommen. Wenn man denkt, es wäre anders, es wäre anders gekommen, als Idee, sagte er, und ich hätte angefangen, mich in der Taille einzuschnüren, und beide Körperhälften hätten Köpfe bekommen, embrionale Gliedmaßen, bis zu meiner vollendeten Teilung entwickelt, dann wären so zwei neue Menschlein, zwei Individuen mit eigenen Schicksalen entstanden, die aber ohne Mutter, oder doch nur aus Teilen, und es hätte keine Leiche gegeben“); ein Anton Dorn, von dem man nicht so recht weiß, ob er der Ehemann, ein Doktorand oder der Direktor des Zoologischen Gartens ist, der wiederum in Verbindung zu Paul Meyer steht, welcher als Lenas Ehemann ebenso in Frage käme wie auch als Assistent von Dorn, denn „die Raubkatzen zu füttern, das war seine Aufgabe“. Kurzum - Lena 'tells von einem knackvollen Leben.

Genauer gesagt: Nicht ein Leben wird erzählt, sondern die Phase, die zwischen dem Entschluß, dieses zu erzählen, und dem sprachlichen zu Protokoll geben „Also, das war so...“) liegt. Vergleichbar mit dem leeren Blick aus dem Fenster, der nichts sieht, sondern nur umherschweifende Stimme und Ohr ist. Die so mit dem inneren Auge rekonstruierte Geschichte ist bekanntlich nicht der Ablauf eines schlichten Mono-Tons. Vielmehr ist ständig eine Vielzahl sich ergänzender und widersprechender Identitäten am werkeln. In Lenas Fall sind es fünf. Dargestellt von drei Frauen und zwei Männern.

Die Männer stehen auf jeweils einer Schaukel, die in zwei kleinen, frei stehenden Fassadengerüsten befestigt sind, und haben nicht viel zu sagen. Lautmalerisch geben sie mehr oder weniger heftig einzelne Silben von sich, die emotionale Haltung Lenas signalisierend. Die drei Frauen, in weißer, roter, grüner Kleidung unterschieden, formulieren den Erinnerungswirrwarr: eine Mischung aus Bildbeschreibungen, analytischen Beobachtungen, Klatsch. Vorangetrieben durch Gedankensprünge und unkalkulierbar plötzliche Dissoziationen, die die eben erreichte mikroskopische Betrachtung auf einer Makro-Ebene zerstäuben lassen. Die eine Frau beginnt einen Satz, die zweite führt ihn fort, die dritte führt ihn zu einem absurden Ende, das nur wieder Ausgang eines neuen Themas ist, welches die drei für ein paar Momente gemeinsam zu besprechen haben, bis auch dieses von einer kleinen, banalen Monströsität weggesprengt wird. Ein Kommen und Gehen der Worte.

Dabei bewegen sich die Darstellerinnen (Juliane Gabriel, Susanne Kukies, Anna Stein) mit programmgesteuerter Exaktheit über die durch Holzbohlen verbundenen Ebenen der Bühne, geben eindeutig unverständliche Winkzeichen mit den Armen, finden einträchtig auf einer Bank plaudernde Ruhe, um schließlich unter der Bühne - aber selbstverständlich immer noch redend - zu verschwinden. Der nie versiegende Schall im Kopf der Erinnerung.

Daß diese, der endgültigen Formulierung vorgelagerten, Schallwellen die quasi immaterielle Architektur des Alltags erstellen, liegt auf der Hand. Die im öffentlichen Diskurs verbreiteten Sätze zeigen die Fassade, hinter der sich das ungeordnete Sprechen wohnlich eingerichtet hat. Im Kopf plappert's, der Mund formuliert logisch verständlich. Der Frage, warum dieses ganz Wortgebäude nicht zusammenfällt, sondern im ständigen Umbau begriffen ist, geht der Autor und praktizierende Architekt Matthias Wittekind mit seinem mittlerweile sechsten Stück Lena 'tells nach.

Eine babylonische, gut inszenierte (Katharina Seidel) und hervorragend gespielte Fragestellung. Besonders jetzt, da die berufsmäßigen Geschichtsarchitekten das kulturelle und politische Stimmengewirr im Hochgeschwindigkeitsverfahren gradlinig zu kanalisieren versuchen.

Peter Blie

Lena 'tells. Ein Stück in 21 Sektionen von Matthias Wittekind mit fünf Sprechern, Sängern und Tänzern. Heute bis einschließlich 29. April. Jeweils 20.30 Uhr im Künstlerhaus Bethanien. Vorbestellung werktags von 9 bis 17 Uhr unter 614 80 10.