Voller Betroffenheit

■ Berliner Theatertreffen 1990

Das Ergebnis der Jury zum diesjährigen Berliner Theatertreffen nehmen wir mit Wut und Trauer zur Kenntnis. Wir stellen fest, daß Ur- und Erstaufführungen von Männern und Frauen wie Ria Endres, Gerlind Reinshagen, Elfriede Jelinek, Nathalie Sarraute, Maria Zwetajewa und Djuna Barnes sowie Herbert Achternbusch (2 Mal!), Bob Wilson, Thomas Hürlimann, Georg Seidel, Hans-Magnus Enzensberger, Christoph Hein und Franz Jung nicht nominiert wurden, während einmal mehr gewoyzeckt, gesampsont, geibst, gelessingt und gestraußt wird, daß es eine Art hat, und zwar von gänzlich Unbekannten der Szene wie Peymann (der nicht einmal kommt), Minks, Freyer, Castorf, Langhoff, Langhoff, Kresnik und Tabori. Nun gilt zwar bekanntlich für die meisten professionellen Großtheaterkritiker, daß sie am liebsten immer wieder das gleiche sehen möchten (wie die Kinder sich am liebsten dieselbe Gutenachtgeschichte jeden und jeden Abend vorlesen lassen); auch kann man sicher sein, daß die Theatertreffenjury in ihrer langen Geschichte zwei besonders auffallende Vertreter des Kritikergewerbes nicht am Eintritt hat hindern können: den notorischen Einschlafer und den zwanghaften In-der-Pause-unauffällig-Rauslaufer. Selbiges hat vermutlich dazu geführt, daß aus dem Echo der Kritik eine Art Mittelwert gezogen wurde, so daß obengenannte Aus und Umgrabungen allesamt aus zweiter Hand zur eigenen Meinung umgefälscht wurden. Der Mut zur Lücke bezog sich in diesem Jahr einerseits auf neue Texte, andererseits auf die nichtstaatlichen und nichtsubventionierten Theaterereignisse. Im übrigen ist der Euphemismus, mit dem das Berliner Theatertreffen als Festival bezeichnet wird, zunehmend unangemessen, da selbst der Kleintierzüchterverband der DDR ein aufregenderes Rahmenprogramm für sein Jahrestreffen zu bieten hat. Wenn schon die Berliner Festspiele-GmbH nicht mehr dazu bereit ist, die notwendigen Finanzen für ein geselliges Miteinander unter Vortäuschung künstlerischer Ereignisse bereitzustellen, gibt es doch immerhin jeweils 12 Monate (also 365 Tage, in Worten: dreihundertfünfundsechzig) Zeit, sich einen Sponsor zu suchen. Die Adressen der Deutschen Bank, Dresdner Bank, von Philip Morris und Mitsubishi Industries sind auf Anfrage in der Kulturredaktion der taz zu erfahren.

es/kno