Die letzte Mauer fällt

■ Noch bevor das neue Geld kommt, sind die Gewerkschaften in der DDR gefordert

Familienfeiern haben einen neuen Gegenstand. Eine magische Formel ist zu Kuchenrezepten, Ehegeschichten und Preisvergleichen hinzugekommen: 1:1 Selten hat das DDR-Volk so einmütig polit-ökonomischer Entscheidungen geharrt wie in diesem Frühjahr.

Der gebannte Blick auf den Stichtag macht aber auch deutlich, daß sich die Ost-Mark-Deutschen von ihrer Begrüßungsgeld-Mentalität nicht lösen wollen. Die erwartete D-Mark soll als gehütete Sparschwein-Währung zum Erfüllungsgehilfen für die kleinen Wünsche nach Reisen, nach Haushalttechnik und Mode werden. Wem aber ist wirklich bewußt, daß am Stichtag auch die ungeliebte, ach so wertlose Alltagswährung aus dem Portemonnaie verschwindet, mit der ohne groß auf den Pfennig zu schauen - der Kaufhallenbesuch erledigt wurde?

Offensichtlich wenigen, wie wäre sonst die Erleichterung zu erklären, mit der die 1:1-Offerte der Bundesregierung hierzulande aufgenommen wurde. Die Löhne und Renten bleiben, werden nicht halbiert, hieß es. Wer hat das zugesichert? Niemand. Ist es nicht vielmehr so, daß die DDR-Betriebe nach der Geldumstellung einen Kassensturz vor sich haben, der Klarheit darüber schafft, welche Lohnkosten sich die Firmen leisten können? Wer schützt dann vor Halbierungen? Werden die Lohnempfänger hier erst wach, wenn sie begriffen haben, daß mit dem Fall der marktschädigenden „Propaganda -Subventionen“ für Brot, Fleisch, Zeitungen, Bus und Bahn der Familienfonds für laufende Ausgaben einen neuen Stellenwert bekommt?

Gerade die Fixierung auf ein 1:1-Wort des Wirtschaftswunder -Kanzlers hat den Blick für solche bevorstehenden Realitäten versperrt. Spätestens jetzt muß es um konkrete Aktionen gehen, die Gewerkschaften sind gefordert.

Das 1:1-Demonstrations-Engagement darf sich nun nicht allein in Bundesvorstands-Stellungnahmen erschöpfen. Jetzt geht's um Engagement an Ort und Stelle, in Betrieben und Kommunen. Noch bevor das neue Geld da ist, müssen Betriebsräte und Gewerkschaften ihre Positionen im Tarifkampf deutlich machen. Mit der D-Mark kommen eben nicht nur Mallorca, Opel und Sony auf uns zu, sondern auch ein Regulativ, das gnadenlos jedem seinen Platz in der Gesellschaft zuweist. Was sind schon Renten mit einem Wert von 70 Prozent des DDR-Nettoverdienstes, der in den vergangenen 40 Jahren mühsam von knapp 400 auf 1.000 DDR -Mark kletterte, im Vergleich zum westlichen Lohn -Preisgefüge? Mit der DDR-Mark verlieren wir die letzte Mauer gen Westen. 1:1 suggeriert uns die angestrebte Gleichheit. Doch spätestens, wenn die Umtausch -Warteschlangen verschwunden sind, ist die Formel zweitrangig. Dann werden wir an den konkreten Zahlen gemessen. Nach dem Stichtag werden wir spüren, was wir wert sind.

Thomas Bittner, Ost-Berlin