Gute Zeiten für Literatur?

■ Das Regime der Ayatollahs im Iran und seine Art, mit Literatur und Wissenschaft umzugehen

Ahmad Taheri

Im Teheraner Goethe-Institut duftet es nach Freiheit. Der geräumige Garten der deutschen Kulturmission ist von einer zehntausendköpfigen Menge gefüllt. Auf dem Podium verlangen die persischen Literaten nach politischer Freiheit und Menschenrechten; die Lyriker prangern das Schahregime in Bildern, Metaphern und Alegorien an. Zehn Abende lang verharrt die jugendliche Masse unter dem regnerischen Himmel und lauscht den dichtenden Helden. Die Begeisterung gilt weniger den Texten als der politischen Kühnheit ihrer Verfasser: Es ist der 2. Oktober 1977. Der Schah sitzt noch auf dem Pfauenthron und die SAVAK, der persische Geheimdienst, ist noch allmächtig und allgegenwärtig. Von Ayatollah Chomeini haben erst wenige gehört. Einer der beiden Initiatoren der „Dichtungsabende“, wie die Lesungen fortan genannt wurden, war Kurt Scharf, der Sohn des kürzlich verstorbenen Bischofs.

Vor ein paar Tagen, nach zwölf Jahren, saß er erneut als Leiter der literarischen Abteilung des „Hauses der Kulturen der Welt“ in Berlin auf dem Podium neben jenen Autoren, die er einst bei den Teheraner „Dichtungsabenden“ betreute. Auf Einladung vom „Haus der Kulturen“ waren sechs Autoren persischer Sprache gekommen, fünf Iraner und eine dichtende Funktionärin, aus dem sowjetischen Tadschikistan.

Vier Abende lang lasen sie aus ihren Werken vor 800 bis tausend Iranern. Eine solche Begeisterung bei Lesungen habe das Haus noch nicht erlebt, betont Kurt Schaaf. Das literarische Interesse kommt nicht von ungefähr. Nach der bitteren Enttäuschung über den Lauf der Revolution in der Heimat haben viele persische Emigranten sich von der politischen Szene in die Gefilde der Kunst und Kultur begeben. Während Musik und Lesungsabende in Berlin, Frankfurt, Paris oder London voll besetzt sind, herrscht auf politischen Veranstaltungen, wie prominent auch das Podium besetzt ist, gähnende Leere.

Allerdings gehören die angereisten Autoren zur ersten Riege der modernen persischen Literatur und werden seit Jahren verehrt und gefeiert. Der namhafteste unter ihnen ist zweifellos Mehdi Achawan-Sales. Neben Ahmad Schamlu, der sich zur Zeit in den USA aufhält, ist Achawan der unbestrittene Fürst der zeitgenössischen persischen Dichtung. Der 63jährige Lyriker, von zerbrechlicher Statur, mit weißem, schulterlangem Haar und neugierigen Kinderaugen, erinnert an den weisen Sufi-Heiligen des islamischen Mittelalters.

Aus der nordöstlichen Provinz Chorassan stammend, wo berühmte iranische Dichter wie Fersosie, der Verfasser des persischen Nationalepos und Chayyam, der Schöpfer der berühmten hedonistischen Vierzeiler, zu Hause sind, hat Achawan der modernen persischen Lyrik dank seiner gewaltigen Sprache und des Anknüpfens an das kulturelle Erbe zum literarischen und gesellschaftlichen Sieg verholfen.

Der Ruhm Achawans begann nach dem Putsch von 1953, der den geflüchteten Schah erneut an die Macht brachte. Enttäuscht von dem Opportunismus der kommunistischen Tudeh-Partei, mit der Achawan, wie viele andere Literaten und Intellektuelle, sympathisierte, wurde er zum Dichter der verratenen Hoffnungen und verlorenen Träume und prägte damit eine ganze Generation: „Kein Schwur ist echt, kein Lächeln wahr

Nicht mal das rührende Lied von dem nach Vereinigung lechzenden Paar.

Unvergeßlich ist bis heute ein Gedicht, in dem er mit den „Wendehälsen“ in der Führung der Tudeh-Partei abrechnet: „In deiner nahen Trauer, du unedler Garten

Nachdem du für immer bist mit dem Wind verweht

Mögen alle Zorneswolken überall schwanger von Tränen des Ekels sei

Wie die schweigenregenden Wolken meiner Pein

Ihr Bäume, deren keiner Früchte trägt

deren Wurzel die Erde des Lasters verdeckt

Aus keinem Teile eures Leibes keimt ein edler Sproß

Du Blattwerk von schmutziger Kette und schmutzigem Schuß

Du Denkmal staubiger und dürrer Jahre

kein Regen wäscht dich jemals rein.

Der zweite Lyriker, der im Haus der Kulturen las, ist Mohammad Djawad Schafii Kadkani. Er ist um etliche Jahre jünger als Achawan und betrachtet diesen als seinen Meister und Lehrer. Schafii ist der namhafteste Lyriker unter der zweiten Generation der modernen persischen Dichtung. Wie Achawan in Chorasan geboren, studierte er zunächst Theologie und wollte Mullah werden. Doch bald wählte er den sakulären Weg und wurde Literaturwissenschaftler. Er lehrt heute an der Teheraner Universität. Doch die enge Verbundeneit mit dem islamischen Erbe blieb bestehen. Oft kleidet er seine politischen Themen in religiös-mysthische Metaphern und Bilder, wie etwa das Gedicht über Halladj, jenen Mystiker des islamischen Mittelalters, der in pantheistischer Extase behauptete, Gott zu sein und dafür am Galgen endete: „Im Spiegel ward er - wieder - sichtba

Mit seinen Wolkenhaaren im Wind Und immer wieder jener glühende Ruf

'Ergosum veritas‘

Aus seinem Munde. Was riefst du nur in deinem Liebesbeten, daß noch Jahr

Nachdem du zum Galgen gingst, die alten Wache

Vor deinem Leichnam noch sich fürchten

Deinen Namen

flüstern

chiffriert Die verwegenen Freigeister von Neschäbu

In Augenblicken der Trunkenheit

-Wein und Wahrheit!“

Seine Gedichte, in denen das politische Engagement mit der lyrischen Trunkenheit einhergeht, machten ihn in den 70er Jahren zur „Lerche der Revolution“:

„Es kommt, es kommt: Wie der Frühling kommt es von überallher

Weder Mauer

Noch Stacheldraht

hält es auf. Nichts und niemand hemmt seinen Lauf

Ach,

Laß mich Regentropfen sein

in dieser Wüste, Dessen Fall der Erde frohe Botschaft bringt

Laß mich die Kehle einer kleinen Lerche sein

die im Januar

Von Frühlingstrieben singt ...“

Seit dem Sieg der Revolution ist die zarte Stimme der Lyrik verstummt. Von Achwan und Schafii sind in den letzten Jahren nur noch wenige Gedichte gedruckt worden. Die gottesstaatliche Erde ist anscheinend nicht besonders günstig für die Blumen der Poesie. Obwohl Ayatollah Chomeini selbt noch auf dem Totenbett Verse schrieb und der jetzige Führer der Revolution, Said Ali Chamenei, sich als junger Mann im gereimten Wort fleißig übte.

Als einstige Opponenten des Schahregimes wissen die herrschenden Mullahs über die subversive Seite der Lyrik gut Bescheid. Ali Schariati, der namhafte Ideologe der Islamischen Revolution etwa, zitierte stets gegen den verhaßten Schah neben Koranversen und Prophetensprüchen auch Gedichte von Mehdi Achwan. „Den Propheten folgen die Dichter“, lautet eine altes arabisches Sprichwort. Gefürchtet wird auch die Möglichkeit der Verbreitung der Lyrik. Ein Gedicht wird selbst von jenen auswendig zitiert, die des Schreibens und Lesens nicht kundig sind. Ein offizielles Schreibverbot gibt es allerdings für die Lyriker nicht.

Im real existierenden Gottesstaat verfährt man wie im real existierenden Sozialismus: Ein Lyriker, der nicht mit beiden Füßen auf der „Immam-Linie“ steht, bekommt für sein Buch kein staatlich subventioniertes Papier, das als Mangelware rationiert ist. Auf dem freien Markt aber kostet das Papier das Zehnfache oder mehr. Ein fertiggestelltes Buch aus „freiem“ Papier ist für die Leser unbezahlbar.

Doch das Interesse an Lyrik hat keineswegs nachgelassen. Achawans Gedichtband Zemestan, auf deutsch Der Winter, der vor dreißig Jahren geschrieben wurde, wurde in den letzten Jahren neunmal verlegt. Der Autor mußte allerdings auf einige Gedichte verzichten. „Früher“, erklärt Achawan den Erfolg seines Buches, in dem die politische Vereisung der Gesellschaft unter dem Schahregime beschrieben wird, „lasen die Leute mein Buch in kalten Nächten des Winters. Den Winter lesen sie jetzt selbst im Hochsommer.“

Ein iranischer Literat bezweifelt allerdings, daß der Mangel an lyrischer Produktion allein an der „Papierpolitik“ des Regimes liegt. „Die blutige Metaphorik des Mullahregimes“, sagt er, „führt alle Metaphern, Bilder und Symbole, mit denen gewöhnlich unsere Dichter arbeiten, ad absurdum. Die derzeitigen Verhältnisse muß man nackt und eindeutig beim Namen nennen. Das kostet aber bekanntlich Kopf und Kragen.“ Beim Namen nenne das Mullahregime nur die Literaten im sicheren Ausland.

Doch die freie Luft ist anscheinend nicht gerade gedeihlich für die persische Dichtung. Abgeschnitten von der Muttersprache und der breiten Leserschaft und ohne schöpferische Zwänge, mit List der Bilder und Metaphern die Zensur immer wieder aufs Kreuz zu legen, verkommt ihre Dichtung des öfteren zum Agitprop. Das einzige politische Gedicht, das nach der Revolution für Aufsehen sorgte, entstand im Lande selbst. Die wenigen Verse, deren Verfasser - zum Glück - bis heute anonym geblieben ist, gibt der bitteren Enttäuschung der linken Intellektuellen über den Lauf der Revolution Ausdruck:

„Nachdem,

100.000 Annemonen

auf Bergen und Feldern

gepflückt worden sind

auf dem Weg jener roten Erwartung

nun aus der warmen Küchenecke die alte Zwiebe

mit Bart und Wurzel im Korb verflochte

sein grünes Fähnlein schwenkend

sich brüstet:

Ja, ich bis es,

der Bote des Frühlings!“

Sieht man einmal von der Lyrik ab, hat das geschriebene Wort im Reiche der Ayatollah Hochkonjunktur. In den elf Jahren Islamischer Republik wurden weit mehr Bücher geschrieben, übersetzt, gedruckt und gelesen, als in vierzig Jahren Herrschaft des Schah: Belletristik, historische, philosophische, politische, soziologische Werke, wie die Schriften über Technik oder Naturwissenschaften, geschweige denn Bücher religiösen Inhalts.

Die Romane und Erzählungen der beiden führenden Prosaschreiber Mahmud Dolatabadi (49 Jahre) und Huschang Golschiri (52 Jahre), die zusammen mit dem großen alten Mann der persischen Prosa, Bozorg Alawi, in Berlin auf dem Podium saßen, haben in den letzten Jahren Auflagen erreicht, die selbst bekannte deutsche Schriftsteller vor Neid erblassen läßt. Kalidar von Dolatabsdi, ein fünfbändiges Hirtenepos von mehreren tausend Seiten, wurde 40.000mal verkauft. Auch Prinz Ehtejab von Golschiri, die Geschichte eines persischen Aristokraten, vor dessen Augen die alte Ordnung zusammenbricht, eine Art „persischer Oblomow“, war nicht weniger erfolgreich.

Auch Belletristik aus dem Abendland erfährt eine Blütezeit. Manche Übersetzungen, zum Beispiel die Werke von Marquez, werden auf dem Schwarzmarkt zum zwei- oder dreifachen Preis angeboten. Die Hundert Jahre Einsamkeit wurde vor einigen Jahren zerstückelt und im Bazar jeweils hundertseitig erfolgreich an die Passanten verkauft. Manche Bücher von englischen, französischen, spanischen oder italinischen Autoren kommen auf persisch schneller auf den Markt, als im Deutschen. Während die leichtere Kost, wie Das Parfüm von Süsskind oder Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins von Kundera die Damen der höheren Gesellschaft ergötzen, erbaut sich die gebildete Jugend an den hochintellektuelen Produkten aus dem Westen. Längst sind Hegel, Kant, Frühschriften von Marx, Gramsci, Marcuse, ja selbst Adorno und Habermas übersetzt und zirkulieren in den akademischen Kreisen.

Bücher sind die einzige Nahrung für Herz, Kopf oder Seele. Die beiden Programme des Fernsehens bestehen hauptsächlich aus ausgedehnten Nachrichten, in denen die globalen Frevler des großen Teufels USA angeprangert werden. Ansonsten schwatzen die finsteren Mullah stundenlang über das „Erlaubte“ und „Unerlaubte“ des muslimischen Alltagslebens. Nur jeden Montag gibt es einen Spielfilm, Produkte aus Kuba, der Sowjetunion, China und neuerdings aus Japan. In japanischen Filmen, wo Männer zur Geisha gehen, sagt der Held in der persischen Synchronisation: „Ich gehe jetzt zum Frisör.“

Auch im Kino gibt es neben persischen Streifen über Krieg und Märtyrertum nur Revolutions- und Heldenfilme aus dem sozialistischen Lager. Wer Geld hat, kann allerdings die neuen Erzeugnisse aus Hollywood, Rom oder Paris bewundern. Und zwar in Form von Videokassetten, die gegen teures Geld unter dem Ladentisch gehandelt werden.

Im Norden Teherans, wo die Tajhuti, die westlich orientierten Reichen leben, steht Michael Jackson weit höher im Kurs als „Der verborgene Imman“ und Madonna höher als Fatima, die Tochter des Propheten.

Das Schahregime basierte auf nackter Gewalt und war bar jedes ideologischen Rüstzeugs. Es hatte geradezu eine Phobie gegenüber allem Geschriebenem, was irgendwie nach Links roch. Die klerikale Macht blickt aber auf eine tausendjährige weltanschauliche Tradition und ist ideologisch selbstbewußt. Sie will nicht den Anschein erwecken, daß sie die intellektuelle Auseinandersetzung mit anderen Weltanschauungen fürchtet. Außerdem gehen die Mullahs davon aus, daß die weltliche Literatur (Belletristik oder Sachbücher) nur von Lesern gelesen werden, die keine Anhänger der klerikalen Macht sind.

Die sakulären Intellektuellen haben schon längst im Gottesstaat sich diverse Freiräume erlistet. Der Zugang zu den Massenmedien ist ihnen zwar nach wie vor verwehrt, doch in den literarischen Zeitschriften, deren Auflage gering, deren Einfluß aber mächtig ist, melden sich politisch zu Wort. Die führende intellektuelle Zeitschrift heißt 'Adinah‘, der „Freitag“. Süffisant und listenreich sorgt das Monatsmagazin mit verschiedenen politischen und literarischen Diskursen für einen säkularen intellektuellen Zusammenhang als Alternative zur herrschenden religiösen Kultur.

Mit Bewunderung, Respekt oder Neid verfolgen die persischen Emigranten die erstaunliche Leistung der 'Adinah‘. Keine der Dutzend persischen Zeitschriften im Ausland konnte auch nur annähernd das Niveau des 'Freitag‘ erreichen. Die Islamische Republik ist also keine intellektuelle Wüste. Der Kampf zweier Kulturen geht weiter.

Bis auf das anonyme Gedicht stammen die Gedicht -Übersetzungen alle von Kurt Scharf: Noch immer denke ich an jenen Raben. Lyrik aus Iran. Übersetzt und ausgewählt von Kurt Scharf, Radius-Verlag, Stuttgart