Die Zone der Lüge um Tschernobyl

■ Auf Initiative der Zeitung 'Moscow News' diskutierten sowjetische Politiker, Publizisten und Wissenschaftler über die jahrelange Unterschlagung der Wahrheit über die Folgen des Super-GAU

An der Diskussion mit Jewgenia Albaz von 'Moscow News‘ waren beteiligt: Ales Adamowitsch, Schriftsteller und belorussischer Volksdeputierter, Valentin Budko, Erster Sekretär des Bezirksparteikomitees Naroditschi (Ukraine), Juri Woroneschzew, belorussischer Volksdeputierter, Wladimir Kolinko, Korrespondent der Presseagentur 'Nowosti‘, Juri Schtscherbak, Schriftsteller und Mitglied des Obersten Sowjets, Alla Jaroschinskaja, Journalistin und ukrainische Volksdeputierte.

Juri Schtscherbak: Die Lüge hat vor dreieinhalb Jahren angefangen. Ich vermute, daß wir die wichtigste Wahrheit über den Unfall noch immer nicht kennen.

Erstens: In der Gesellschaft hat sich eindeutig der Gedanke festgesetzt, schuld sei das Personal, das die Vorschriften gröblichst verletzte. (...) Nun aber sind etliche namhafte und verantwortungsbewußte Experten zu dem Schluß gelangt, die Hauptursache für den GAU habe in den Konstruktionsfehlern im Sicherheitssystem des Reaktors RBMK -1000 selbst gelegen. Ich verfüge über ein einmaliges Dokument, angefertigt vom Sicherheitsingenieur des Kursker KKWs, Jadrichinski, in dem er dies, wie ich meine, mit sehr klaren Argumenten beweist. (...) Übrigens zieht der gleiche Jadrichinski, und nicht nur er, auch die Meßwerte der tatsächlichen Emissionen aus dem havarierten Tschernobyl -Reaktor in Zweifel. Nach Schätzung des Staatlichen Komitees für Hydrologie und Meteorologie (SKHM) und laut in der Sowjetunion veröffentlichten offiziellen Angaben lagen die radioaktiven Gesamtemissionen bei 50 Millionen Curie. Eine ganze Reihe anderer Experten, etwa des Unionsforschungsinstituts für Kernkraftwerke, schätzen die Emissionen auf eine Milliarde Curie, Jadrichinski schätzt etwa 6,4 Milliarden Curie! Das bedeutet, daß wir mitten in Europa eine Atomkriegszone haben. Laut der Zeitschrift 'Science‘ betrugen allein die Cäsiumauswürfe von Tschernobyl sechzig Prozent aller Atombombentests in der Atmosphäre.

Zweitens ist die Frage zu klären, wohin die Unfallmeldungen gingen, wie sie aussahen und in welchen „Etagen“ sie frisiert wurden. Hier haben wir es mit einer echten Dedektivaufgabe zu tun. (...)

Die unvollständigen Meldungen über die Havarie im KKW Tschernobyl führten auch dazu, daß nicht rechtzeitig beschlossen wurde, die Evakuierungszone von zehn auf 30 Kilometer auszudehnen. Also die Evakuierung des 14 Kilometer vom Reaktor entfernten Tschernobyl sowie vieler Ortschaften, in denen die radioaktive Strahlung immens war. (...) Und die 1.-Mai-Demonstration in Kiew? Ich besitze etwas Haarsträubendes: eine Einladung zum Festumzug für junge Pioniere. Und ein weiteres Dokument, unterschrieben vom stellvertretenden Leiter des ukrainischen SKHM (Staatliches Komitee für Hydrometeorologie, d. Red.), Tscheljukanow. Es handelt sich um die Meßwerte der Radioaktivität in Kiew Ende April/Anfang Mai 1986, die der höchsten Führung der Republik operativ zugänglich gemacht wurden. Darin heißt es, die Radioaktivität sei ab dem 30.April gestiegen und habe in einigen Bezirken Kiews das 100fache der höchstzulässigen Norm erreicht. Aber die Bevölkerung wurde nicht gewarnt. Übrigens: Auf der Tribüne standen Schtscherbiszki und Ljaschko. Was ist das - Dummheit? Oder ein Pflichtgefühl, das befiehlt: Lieber selbst Opfer der Radioaktivität werden, als den Leuten die Wahrheit sagen? Wie auch immer, diese Genossen tragen die direkte Verantwortung für die Kinder, die sie an jenem Tag aufmarschieren ließen. (...)

Moscow News: Damit ist also klar: Gelogen wurde von Anfang an. Im ersten Jahr der Perestroika, als Glasnost gerade den Frostboden des Stalin-Sozialismus aufbrach, lief der eingespielte Mechanismus der Geheimhaltung und der Halbwahrheiten sozusagen noch wie geschmiert. Verzeihlich ist das sicher nicht. Doch man kann es - in Kenntnis unserer Wirklichkeit - irgendwie verstehen. Danach aber? Die Situation im Lande schien doch Unwahrheiten nicht mehr zu dulden.

Ales Adamowitsch: Ich möchte jetzt sagen, daß der Frevel, der 1986 begann, weiterging und -geht. Seine Formen haben sich zwar gewandelt, aber geringer ist er nicht geworden. Ich frage mich, warum drei Jahre lang nicht von den Ausmaßen der radioaktiven Verseuchung Belorußlands, der Ukraine und des Bransker Gebiets der Russischen Föderation gesprochen wurde.

(...) Lediglich drei Jahre nach Tschernobyl wurde endlich ausgesprochen: Ein Drittel Belorußlands ist verseucht, ein Fünftel der Ackerflächen „verendet“. Das sind die Zahlen: In der Russischen Föderation 1.000 Quadratkilometer verseuchten Bodens, in der Ukraine 1.500, in Belorußland 7.000 Quadratkilometer! Weitergelogen wurde selbst dann noch, als die Dinge ans Licht kamen. (...)

Alla Jaroschinskaja: Ich denke, der Hauptgrund für die große Tschernobyl-Lüge liegt in der Politik der Geheimhaltung und wahlweise Glasnost. Hier die von einer Regierungskommission unter der Nr.514 vom 29. Februar 1988 bestätigte „Aufstellung von Daten zur Havarie im KKW Tschernobyl, die keiner Veröffentlichung in der frei zugänglichen Presse, in Rundfunk- und Fernsehsendungen unterliegen“. Der damalige Kommissionsvorsitzende hieß Boris Schtscherbina. Ich zitiere: „Verschlußsache sind Angaben über den Grad der radioaktiven Verseuchung in einzelnen Ortschaften, der den zulässigen Stand überschreitet, sowie Kenndaten für eine Verschlechterung der physischen Leistungsfähigkeit, Verluste der Berufseigenschaften des unter besonderen Bedingungen des KKW Tschernobyl arbeitenden Bedienungspersonals und der zur Folgenbeseitigung der Havarie eingesetzten Personen.“ (...)

Moscow News: Bald nach dem Tschernobyl-GAU war also klar, wie unheilvoll die Verheimlichung der Wahrheit ist. Doch auch das machte den Leuten wenig aus, die in der Überzeugung verharrten, eine Glasnost sei für alle, eine andere - für die Elite. In den Gebieten mit erhöhter Radioaktivität erkrankten Kinder. Erwachsene starben oder begingen Selbstmord. Das Land aber las inzwischen den bis dahin verbotenen Wassili Grossman und wartete auf die Werke von Solschenizyn - erfuhr die Wahrheit über die Vergangenheit und wollte glauben, daß es keine Sperrzonen für Glasnost gebe. Aber die Zone der Lüge um Tschernobyl blieb. Jetzt ist auch das offensichtlich. Welche Konsequenzen wurden daraus gezogen?

Ales Adamowitsch: Wer einmal die Unwahrheit sagt, kann schwerlich damit aufhören. Eine neue Unwahrheit, die über die gequälten Menschen hereinbricht, die nicht mehr wissen, wem sie glauben sollen und nun keinem mehr glauben, ist die sogenannte Konzeption 35ber (entspricht 35rem, d. Red.). Diese höchstzulässige Dosis, die man im Leben erhalten dürfe, haben Wissenschaftler aus dem von Akademiemitglied Ilijin geleiteten Zentrum für die verseuchten Gegenden festgelegt. Und zwar für alle. Für gesunde Männer und für schwangere Frauen, für Greise und Kinder. (...)

Ales Adamowitsch: (...) Wir hören bereits, daß man im Norden, in Mittelasien und in anderen Gegenden kein belorussisches Fleisch will. Wir aber steigern fröhlich die Butter- und Fleischproduktion in den radioaktiv verseuchten Zonen. Hier Unterlagen dafür: Der Bezirk Choinikski gehört zu denen, die sofort als gefährdet eingestuft wurden. Dort ist alles verseucht, von Landwirtschaft dürfte da keine Rede sein. Aber: 1985 lautete der Plan für Milch 32.500Tonnen, 1989 36.000Tonnen, für Fleisch waren es 7.500Tonnen, heute 7.800Tonnen. (...) Dabei verzeichnen die Dörfer Lomatschi und Tulgawitschi - das haben Wissenschaftler gemessen - eine Plutoniumdecke von 5,4Curie je Quadratkilometer, während die Norm bei 0,1 liegt! So funktioniert vor unser aller Augen der bürokratische Mechanismus des Völkermords weiter, eines blinden, sinnlosen, nicht einmal böswilligen Mordes, ganz einfach die übliche Funktionsweise des bürokratischen Räderwerks. (...)

Valentin Budko: Wissen Sie, ich höre Ihnen hier zu und denke dabei: Da ist also etwas Entsetzliches über uns hereingebrochen. Ja, wir wurden nicht rechtzeitig gewarnt, die Kinder nicht evakuiert. Aber wir hatten doch erwartet, daß die Wissenschaftler, die Ärzte, die Führung der Republik uns helfen würden. Wir haben ihnen vertraut. Sie halfen nicht. (...) Mir selbst sind bereits alle Türen verschlossen, sogar im Ministerrat in Kiew - ich habe den Ruf des ärgsten Aufrührers.

Wir hatten den Vorsitzenden des SKHM, Israel, zu Besuch, der uns sagte, die durchschnittliche Verseuchung betrage bei uns fünf Curie, es ließe sich also leben. Was heißt durchschnittlich? Was heißt das, wenn es Dörfer gibt, wo 170 Curie gemessen werden? Ich kann Ihnen Unterlagen präsentieren, die ganz offiziell ausweisen, daß alle Kinder im Dorf Malije Menki in drei Jahren20 ber aufgenommen haben.

Juri Schtscherbak: Begreifen Sie, was das für den kindlichen Organismus bedeutet - 20ber? Das bedeutet künftige Leukämie, Krebs, Mutationen... (...)

Ales Adamowitsch: Lassen Sie mich, da unser Gespräch ja offenbar zu Ende geht, zum Schluß noch eines sagen: Die Leute, die an allen diesen Verbrechen, an dem ganzen Schwindel und Betrug, am Unterschlagen der Wahrheit schuld sind, diese Leute werden an der Situation nichts ändern können. Daher werden sie, um ihre LÜgen zu verbergen, weiter lavieren und weiter lügen. Deshalb müssen die, die noch nicht pensioniert werden, von ihren Posten abtreten. (...)