Genese einer Öffentlichkeit

Das glühende Inferno im Block IV des Reaktors von Tschernobyl kühlt sich langsam ab. Auf 200 Grad Celsius schätzen Wissenschaftler heute die Glut im Innern des Sarkophags, Tendenz abnehmend. Es kursieren Vermutungen, die monströse, angeblich fest versiegelte Grabstätte sei in Wirklichkeit noch heute nach oben offen, um Druck und erneute Überhitzung zu vermeiden.

Die langsam verebbende Kettenreaktion, die abnehmende Hitze im Innern des Sarkophags, sie stehen im scheinbaren Gegensatz zur explosionsartigen Aufheizung der öffentlichen Debatte über die Folgen der Katastrophe an ihrem vierten Jahrestag - in der Sowjetunion selbst, aber auch hierzulande. Der erste Jahrestag war außerhalb der Sowjetunion zu einer weltweiten Manifestation gegen die Atomenergie genutzt worden, aber schon am zweiten fanden die Anti-AKW-Gruppen in der Bundesrepublik nur dank des Transnuklear-Skandals ihr Publikum, am dritten waren sie unter sich wie selten zuvor. Doch die plötzliche Renaissance der Debatte ist zwangsläufig - eine vierjährige Inkubationszeit war wohl nötig, bis die schrecklichen Langzeitfolgen sichtbar wurden und Michail Gorbatschows Glasnost in der Gesellschaft den notwendigen Widerhall fand.

Doch Tschernobyl ist das Lehrstück dafür, daß Glasnost und Offenheit nicht von oben dekretiert werden können, sondern von unten erkämpft werden müssen. Hohe und höchste Stellen wagen es bis heute über die Konsequenzen der „Havarie“ so zu lügen, daß sich die Balken biegen. Kein Wunder also, daß die Menschen, vier Jahre lang mit ihren Ängsten allein gelassen, jedem Gerücht mehr Glaubwürdigkeit zubilligen als einer offiziellen Stellungnahme. Gegeninformation jedoch ist möglich und wird auch zugelassen.

Resonanzboden für kritische

Öffentlichkeitsarbeit

Die erste Reportage über das heute erkennbare Ausmaß der Folgen des großen Knalls erschien im Frühjahr 1989, geschrieben vom Energetik-Ingenieur und Journalisten Wladimir Kolinko, der seine Recherchen vor Ort mit mehreren Krankenhausaufenthalten bezahlte. Der Regisseur Rolan Sergejenko drehte Filme wie die „Die Glocke von Tschernobyl“ oder „Die Schwelle“, letzterer läuft zur Zeit in der BRD. Der Schriftsteller und Arzt Jurij Stscherbak veröffentlichte in Buchform Protokolle einer Katastrophe. Er ist inzwischen Mitglied des Obersten Sowjets und Vorsitzender des Unterausschusses für Energiewesen und nukleare Sicherheit. Alle drei gehören zu einer Gruppe, die seit 1989 zu Hause in der Sowjetunion und im Ausland die Strategie der Desinformation der nationalen und internationalen Atomzunft bekämpft. Stscherbak schätzt die Aufwendungen, die zur Bekämpfung der Langzeitfolgen von Tschernobyl bis zur Jahrtausendwende anfallen werden, auf die ungeheure Summe von 300 Milliarden Rubel, umgerechnet etwa 540 Milliarden DM.

Die Tatsache, daß Millionen von Menschen durch Krankheit und menschenunwürdige Lebensumstände betroffen sind, bildet den Resonanzboden für die kritischen Öffentlichkeitsarbeiter und ihre Gesinnungsgenossen.

Gedankt wird ihnen ihre Aufklärungsarbeit sowenig wie den Atomkritikern hierzulande. Der in der UdSSR hochangesehene Strahlenforscher Popow beispielsweise startete über die Medien eine üble Rufmordkampagne gegen Wissenschaftler aus dem am stärksten verseuchten Belorußland, die zuvor ein schonungsloses Bild der Lage gezeichnet hatten.

Nicht nur dieser Vorgang belegt eine unübersehbare Tendenz: In der Sowjetunion entwickelt sich eine AKW-Öffentlichkeit, die der im Westen bekannten immer ähnlicher wird. Kein Wunder, daß die 'Atomwirtschaft‘, Kampfblatt der bundesdeutschen Atomlobby, sich inzwischen nicht mehr scheut, Beiträge aus der 'Prawda‘ nachzudrucken. Dort führt beispielsweise der der Datenschönung verdächtige Vorsitzende des Staatlichen Komitees der UdSSR für Hydrometeorologie, Jurij Israel, „aus sowjetischer Sicht“ aus, daß die Kontamination ganzer Landstriche bei „Einhaltung der Richtlinien zu keiner Gesundheitsgefährdung der Bevölkerung führen“ werde.

Trotz allem spricht wenig dafür, daß die zumeist in der Moskauer Zentrale beheimatete Abwieglerfraktion die „neue Öffentlichkeit“ der Atomkritiker auf Dauer in Schach halten kann. Auch ohne eine weitere „Havarie“ wird die Sowjetunion Tschernobyl nicht verdrängen können - weil die Katastrophe weitergeht.

Gerd Rosenkranz