Die Opfer von Tschernobyl sterben langsam

■ Der Super-GAU im Reaktorblock IV von Tschernobyl jährt sich heute zum vierten Mal. Trotz Glasnost und Perestroika dringt das Ausmaß der Katastrophe erst jetzt in die sowjetische Öffentlichkeit. Durch Nachforschungen konnten kritische Naturwissenschaftler, mutige Journalisten und engagierte Ärzte das Lügengeflecht der Behörden um die radioaktiv verseuchte Sperrzone in der Ukraine langsam entwirren.

„War es damals gefährlich, im Meer zu baden? Wie sieht es heute aus?“ fragt ein besorgter Hörer den Moderator eines Moskauer Radiosenders. Kürzlich war bekanntgeworden, daß auch die Umgebung des beliebten Badeortes Sotschi am Schwarzen Meer vom Tschernobyler Fallout nicht verschont geblieben war. „Natürlich war es gefährlich, jetzt besteht aber kein Risiko mehr“, antwortet der Moderator. „Warum wurden wir nicht informiert?“ - „Die Behörden...“, so lautet die stereotype Antwort.

Ähnliche Fälle wie dieser gehören in der Sowjetunion zur Tagesordnung. Immer wieder werden Stellen entdeckt, die verseucht waren oder noch verseucht sind. Zwar hat die 'Prawda‘ in einem Schub von Glasnost im vergangenen Jahr Karten mit den bekannten kontaminierten Stellen veröffentlicht, doch das Ausmaß der Katastrophe wird auch heute erst nach und nach bekannt.

Mittlerweile kann nicht mehr die Rede davon sein, daß sowjetische Stellen versuchten, die Folgen des Reaktorunfalls zu vertuschen. Dafür hat das Thema eine zu große Öffentlichkeit erlangt. In der vergangenen Woche brachte das Fernsehen mehrere erschütternde Beiträge aus den direkt betroffenen Gebieten der Ukraine und Weißrußlands. Selten aber wird die Frage nach den direkt Verantwortlichen gestellt, und eine kritische Auseinandersetzung über den weiteren Nutzen der Kernenergie findet so gut wie gar nicht statt. Das Erstaunliche ist: Selbst viele Aktive in den informellen Gruppen, darunter Wissenschaftler, Ingenieure und Grüne, sind keine erklärten Atomgegner. Vielmehr wollen sie dieses Thema „differenziert“ diskutieren. Leute wie der belorussische Schriftsteller Alex Adamowitsch oder der ukrainische Arzt und Schriftsteller Jurij Stscherbak, die konsequent gegen diese Technik auftreten, sind da eher die Ausnahme (siehe Interview auf Seite 3).

Tausende „Liquidatoren“

gestorben

Die 'Komsomolskaja Prawda‘, das Blatt des staatlichen Jugendverbandes, gehört zu den wenigen Zeitungen, die kontinuierlich über Tschernobyl und die Folgen berichtet haben. Ungeschminkt berichtete sie beispielsweise über die Zurückgebliebenen, die um Tschernobyl herum in einer Zone der Gesetzlosigkeit leben. Sie gibt es eigentlich nicht mehr, und dennoch werden noch Kinder in diesem todgeweihten Gebiet geboren. Der Zeitung ist es zu verdanken, daß die himmelschreiende Unmenschlichkeit ans Licht kam, mit der die „Liquidatoren“ staatlicherseits behandelt werden - jene Arbeiter, die nach der Katastrophe zur „Schadensbeseitigung“ in Tschernobyl eingesetzt worden sind. Viele der Liquidatoren sind mittlerweile schwer erkrankt, Tausende bereits gestorben. Das Gesundheitsministerium hatte sich bis Anfang des Jahres geweigert, die Schäden als Folge eines Einsatzes in Tschernobyl überhaupt wahrzunehmen. Jetzt ist eine Untersuchungskommission damit befaßt.

„Die Anerkennung als Opfer bleibt ihnen aus einem ganz einfachen Grund verwehrt“, erklärt der ukrainische Ingenieur Wladimir Lissizew mit bitterem Unterton, „dem Staat fehlt das Geld. Es sind einfach zu viele.“ Lissizew hat mehrere Jahre in Pripjat, „einer Stadt in der Nähe von Tschernobyl, die keine mehr ist“, Computerprogramme für Atomkraftwerke entwickelt. Mittlerweile steht er einer Organisation vor, die sich um die Rechte der Zuschadengekommenen kümmert. Sie trägt den umständlichen Namen „Vereinigung der Veteranen der Liquidatoren der Tschernobyler Havarie“. Zur Zeit hält sich Lissizew in Moskau auf, um den „Telemarathon“ vorzubereiten, der ab heute abend 24 Stunden lang vom sowjetischen Fernsehen ausgestrahlt wird. Die Initiative zu diesem Programm, das alle Aspekte des Unglücks aufzeigen will, geht auf die Organisation „Sojus Tschernobyl“ zurück, die damit weltweit um humanitäre Hilfe bitten will. Ihr gehören namhafte Leute des In- und Auslandes an. Dieses Programm durchzudrücken, hieß es am Rande der Vorbereitungen, sei nicht einfach gewesen.

Lissizew erzählt unglaubliche Dinge. Als die Liquidatoren vor drei Jahren eingesetzt wurden, versprach man zunächst, ihnen in Kiew Wohnungen zu beschaffen. Doch in ihrer Kleinkariertheit machten die Behörden ihre Zusage wieder rückgängig. Die Retortenstadt Slawutitsch wurde für die Arbeiter aus dem Boden gestampft. Dann stellte sich heraus, daß der Boden dort hochgradig cäsiumverseucht war. Den Ministerien wurde dies schon vor Baubeginn mitgeteilt, ein Baustopp aber nicht verfügt. Man bestand darauf: Die Arbeiter sollten umziehen. Erst ein Streik im Tschernobyler Atomkraftwerk zwang die Behörden zum Einlenken. „Natürlich“, meint Lissizew, „hat das das Anwachsen der Unabhängigkeitsbewegung 'Ruch‘ und auch der Grünen gefördert.“ Im letzten Jahr sei nun eine Verfügung erlassen worden, wonach nur noch Ausgaben und Miltäreinsätze im Zusammenhang mit Tschernobyl der Geheimhaltungsstufe unterliegen. Dies wird er nächste Woche an Ort und Stelle prüfen.

Opfer werden dem

Tod überlassen

Im Grunde genommen hat sich trotz größerer Öffentlichkeit an dem Schicksal der Strahlenopfer nichts geändert: „Sie werden dem Tode überlassen.“ Nicht einmal in den letzten Tagen nimmt man sich ihrer an. Die Polikliniken schicken sie weg, weil es „dem Renommee schadet“, wie Lissizew sagt. Vielerorts würden die Hilfesuchenden einfach abgewiesen, Behandlung häufig nur gegen harte Währungen gewährt und Obduktionen kaum vorgenommen, „um damit keine Beweise zu liefern“. Alle Fälle, die ihm bekannt werden, sammelt der Unermüdliche, der heute die Chance nutzen will, die Weltöffentlichkeit darauf aufmerksam zu machen. Seine letzte Hoffnung liegt in einer großzügigen Hilfe des Westens, Medikamente und andere kleine Spenden reichen da nicht mehr. Er hofft auf die Einrichtung von Kliniken und stete ärztliche Hilfe, denn es sind Millionen betroffen. „In der Ukraine sind die Menschen müde, sie wollen nichts mehr davon hören, und die Kranken haben den Kampf aufgegeben.“ Lissizew wird weiterkämpfen, und für das sowjetische Fernsehen könnte dieser Abend zu einer Premiere werden.

Klaus-Helge Donath, Moskau

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