KORB MIT AUSSICHT

■ „Von Balkon zu Balkon“ - Berliner Balkongeschichte(n), wiedervorgestellt im Gehag-Forum

So herablassend nett hätte er auch über eine leider nun notwendig gewordene Mieterhöhung reden können. Doch der behäbige Vorsitzende der Gemeinnützigen Wohnungsbaugesellschaft ließ sich gerade herbei, die Motivation für die Übernahme einer bereits auf der Buga und in der Galerie am Körnerpark gezeigten Wanderausstellung über Berliner Balkongeschichte zu erklären: Man wolle dem Mieter oder besser der Berliner Bevölkerung ein bißchen Kunst und Kultur nahebringen. Mit dieser Funktionalisierung selbst noch des zitierten Balkons reihte er sich ganz wunderbar ein in das Stück Alltags- und Kulturgeschichte, das Susann Hellemann und Lothar Bingert aus Bauhistorie, Stadtakten, Presse, Literatur und privaten, auf dem Flohmarkt verscheuerten Fotoalben zusammengetragen haben: Ob als repräsentatives Teilstück kurfürstlicher Stadtmöblierung, ob als Ersatz für gescheiterte bürgerliche Öffentlichkeit in der Restauration, ob als Regenerationsfaktor für die Arbeiterschaft im Reformwohnungsbau oder schließlich als geförderter und gepflegter „Freiraum“ und Ausdruck gezähmter Kreativität der Kleinfamilie - immer hatte der Balkon mehr als alle andern Teile der Wohnung eine öffentliche Funktion zu erfüllen bis hin zum Bild für Öffentlichkeit schlechthin: Republiken wurden von ihm ausgerufen, die ersten Demonstrationen von ihm herunter begafft, Hitler gefeiert, Instandbesetzung angezeigt, gegen Tschernobyl, für den Frieden, Liebe und Anarchie Partei ergriffen. Daß Lummer in der Hochzeit des Berliner Häuserkampfs von einem Balkon aus Anweisungen für den Polizeieinsatz gab, mag seinem Wahn politischer Größe entsprungen sein. Hauptsächlich wollte er aber wohl feldherrisch die Aussicht prüfen, die längst keine „schöne“ mehr war.

Als Instrument der Herrschaftssicherung nahm der Balkon seinen Anfang. In der kurfürstlichen Residenzstadt gehörte er neben Risalit, Erker und Portalen zum Fassadeninventar einer Stadtplanung, die allein von der Repräsentation bestimmt war. Unter dem renaissancebegeisterten Friedrich II. griff der Zwang zum äußeren Schein auch auf Bürgerhäuser über: Balkone wurden ohne jeden Bezug zur inneren Raumaufteilung angesetzt, Fensterfronten mehrerer Häuser auf Linie gebracht, um den italienischen Palast zu simulieren. Innen allerdings kamen die Fenster im ungünstigen Fall auf den Fußboden des Stockwerks zu liegen und werden den Palastbewohnern nicht viel Freude gemacht haben.

Mit dem Ende des Absolutismus wechselten die Aussteller und der Ausstellungsrahmen, nicht aber die Funktion des Balkons. Nun repräsentierten sich die begüterten liberalen Bürger, die Exrevoluzzer, die ihre politische Frustration mit der Selbstinszenierung des neuen Reichtums kompensierten. Noch war die Zurschaustellung in der Privatheit - diese einmalige Kombination ermöglicht nur der Balkon - eher selten; wer auf sich hielt, trieb sich auf den Balkonen und ausgebauten Galerien des Volpischen Kaffeehauses am Schloßplatz (wo das inzwischen abgerissene Stadtschloß und heute der Palast der Republik steht) oder des Cafes Kranzler herum. Während sich, was die Wohnparteien eines Hauses betraf, schon 1785 „kein Mensch mehr nach dem andern geniert“ (ein Zeitgenosse), wurde in einer zunehmend von Börsenschwankungen bestimmten Gesellschaft „Beobachten zum akzeptierten Sozialverhalten“ Hellmann/Binge).

Diese Gesellschaft, die jener Leidenschaft im Kranzler frönte, der „Walhalla der Berliner Gardeleutnants“, war für Friedrich Saß 1846 „glänzender Ausdruck des klassischen Nichts“, die Kaffeebalkone „die einzigen Orte, in denen das blasierte Berlin den Schein des öffentlichen Lebens zeigt“. Sie waren aber auch, wie Saß kritisch anmerkt, „ein trauriger Notbehelf für eine großartigere, tiefer ausgehendere Öffentlichkeit“.

Der politisch mündige Bürger nahm diese Öffentlichkeit schließlich auch noch nach Hause. Der Balkon wurde ihm „Präsentierbrett, um die Spaziergänger durchzuhecheln“ und gleichzeitig zu sehen, „was der Nachbar ißt“ (Ludwig Löffler). Der „Blumist“ frönte illegal seiner Natursehnsucht mit Blumenkörben, denn Mauerbeschädigung durch herabfließendes Wasser war noch um 1800 mietrechtlich untersagt. Während sich die Balkonnutzer in den Sichtschutz von Laube und Markise zurückzogen, um zu sehen, nicht gesehen zu werden, endet die Repräsentierlinie vom Kurfürsten über den Adel zum Bürger beim Berliner Hausbesitzer. Handtaschengroße Balkone („ein eiserner Korb für einen spindeldürren Schneiderlehrling“) waren sein ganzer Stolz und werden heute dankbar von postmodernen Architekten wiederaufgegriffen. Hausbesitzer der Jahrhundertwende fühlten sich von der anarchischen Balkonbepflanzung bedroht und wollten Verordnungen zur linientreuen Einheitspelargonie durchsetzen. Der Rixdorfer Gärtner und Hauseigner Wendt fügte seinen Mietverträgen eine Klausel bei, die ausschließlich ihm die Balkonbepflanzung und das Begießen jener Zwangsfauna vorbehielt.

Ungeachtet dieser Auswüchse, konnte sich Berlin zur einzig wahren, der Balkonhauptstadt entwickeln. Das ganz Große und das ganz Kleine kehrt auf den von Hellemann und Binge gesammelten Amateurfotos, die auf Balkonen entstanden, wieder. Der stramme Soldat, Mein Fritzel auf Sonntagsurlaub, die lässig an der Brüstung lehnende Zwölfjährige im Luftanzug der Zwanziger, Effi Briests Kaffeerunde, die zugezogene Großfamilie. Der Balkon ist nicht nur idealer Ablichtungsort, er dient auch der Selbstinszenierung bürgerlicher Behaglichkeit. Hier wird mit dem Stammhalter geprahlt, hier entwickelt sich aber auch ein Bewußtsein für Kindheit, für freien Umgang mit dem Körper, für narzißtische Pose.

Auch die Stadtplanung der zwanziger Jahre und das Gewerbe entdecken noch einmal den Balkon. Der reformerische Wohnungsbau propagiert gesundes Wohnen. Die Krankenkasse AOK entdeckt seine Rentabilität und gründet eine Wohnungsbaugenossenschaft, denn „Die beste Heilstätte ist eine gesunde Heimstätte“. Bei Karstadt dürfen die Angestellten in den Pausen auf einer Dachterrasse produktiv ruhen. Der Balkon, einst Ort mühsam erkämpfter bürgerlicher Öffentlichkeit, später knapp bemessener Freiraum zur liebevollen Pflege dieser Öffentlichkeit, wird, als sie Früchte trägt, zum Reproduktionsfaktor. Die Herrschaft kehrt wieder auf den Balkon zurück. Eine alte Frau, die ihr halbes Leben auf dem Balkon verbrachte, wie die Fotos zeigen, errichtete, als Reichspräsident Hindenburg starb, ihrem Idol einen trauerumflorten Altar. Hindenburg Läßt über den Tod hinaus defilieren.

Dorothee Hackenberg

Von Balkon zu Balkon, Ausstellung bis 28. Juni in der Gehag, Mecklenburgische Straße 57, Mo-Fr 10-16 Uhr. In der Ausstellung wird zusätzlich zu den Fotos und begleitenden Texten auch ein Video „Einblicke“ von Gerd Konrad gezeigt, eine zehnminütige Einzelbildschaltung vom Leben auf einem Balkon in Ost-Berlin. Der lesenswerte Katalog ist 1988 im Nishen-Verlag erschienen.