SCHRECKLICH KOMISCHE GESPENSTER

■ Das „Off-Moskau„-Theaterfestival in Ost- und West-Berlin hat mit einem Stalin-Stück in der Theatermanufaktur begonnen

Wie man sich fühlt, wenn man Stalin spielt? Der Schauspieler Alexej Bagdassarow fühlt sich durch diese Frage nicht im geringsten in Verlegenheit gebracht, sondern anscheinend eher geschmeichelt: sehr gut, wenn man vom Publikum so aufgenommen wird. Und in Wirklichkeit ist es auch gar nicht Stalin, den man hier spielt, das Ganze ist dermaßen überzeichnet, eine so groteske Farce, daß der Verdacht, man wäre Stalin, gar nicht aufkommen kann!

Mit Viktor Korkijas Stück Der Schwarze Mann oder Ich, der arme Soso Dshugaschwili hat das Theater der Moskauer Universität das „Off-Moskau„-Theaterfestival eröffnet.

Tatsächlich ist Stalin keineswegs der Held des Stückes, auch nicht sein eigentlicher Gegenstand. Thema des Stückes ist der Personenkult und damit der „Mythos über ihn“. Der Autor des Stückes, Viktor Korkija (Jahrgang 1948), hatte das Stück bereits vor der sogenannten Perestroika geschrieben, es dann sogleich aus Angst vor Repressalien verbrannt und später wieder auf Betreiben des Leiters des Theaters der Moskauer Universität erneut aus dem Gedächtnis aufgeschrieben, so daß es schließlich 1988 in Moskau uraufgeführt werden konnte. Seitdem hat die Truppe das Stück 150mal vor jeweils 1.200 Zuschauern aufgeführt, und zwar mit Erfolg. Selbstverständlich, so die Schauspieler, werde das Stück auch in Moskau sehr kontrovers diskutiert, denn auch dort stellt sich natürlich die Frage, ob man das eigentlich dürfe: Stalin sozusagen als Witzfigur auf die Bühne bringen, ein Stalin zum Lachen. Aber, so Alexej Bagdassarow, es kämen auch Leute nach der Vorstellung, die 25 Jahre unter Stalin eingesessen haben, und die bedanken sich und sagen, daß es für sie gewesen sei wie Rache, „weil ihr Stalin lächerlich gemacht habt“.

Hauptfiguren des Stückes, dessen Einrichtung an das Innere eines Zirkus erinnert (weißer Vorhang mit großem roten Stern, ein paar Kästen und eine große schwere Zaubertruhe, die als Tisch, Wanne und Sarkophag dienen kann), sind Stalin (Soso) und sein gefürchteter Geheimdienstchef Berija, jeder das personifizierte Mißtrauen gegenüber dem anderen. Berija, von der Angst gepeinigt, Stalin werde auch ihn über kurz oder lang liquidieren lassen, läßt diesem durch den „schwarzen Mann“ ein anonymes Briefchen zuspielen, das Berija unterstellt, er sammle Informationen über Stalin (Die Akte Dshugaschwili). Stalin, über Alter, Einsamkeit und den Tod seines geliebten Papageien meditierend, läßt Berija zu sich kommen. Auftritt Berija. Stalin schießt, Berija fällt, Stalin bemächtigt sich der Schlüssel zum Geheimdienstakten -Safe, vertieft sich in seine Akte, philosophiert über das Loch, welches zu stopfen sei, wenn Gott nicht mehr da ist. Nun, wer stopft das Loch? Stalin. Pause! Danach: Berija darf nicht sterben. Er kommt wieder zu sich, Stalin reicht ihm einen Trunk aus Baldrian und Cognac und fordert ihn auf, vor dem Trinken einen Toast auf sein Ableben auszusprechen. Berija, panisch und schwitzend, unterwürfig, aber stumm, überläßt die Rede Stalin, der begeistert das monumentale Denkmal entwirft, welches man Berija nach dessen Tod setzen wird. Berija muß posieren, das Monument wird modelliert, aber hier verwandelt sich Berija plötzlich in den „schwarzen Mann“ (PerestroikaUmwandlung).

Wessen Denkmal also ist es, das hier errichtet wird, das Berijas, das Stalins oder gar das Denkmal für den toten Papagei? „Wo alle gleich sind, ist jeder austauschbar.“ So streiten sich auf einmal alle drei (Stalin, Berija und der Papagei alias schwarzer Mann): „Ich bin Stalin, nein ich, nein ich, nein ich...“ Die Identitätsverwirrung wird kolossal und endet im totalen Chaos: „Wer bist du? / Ich bin dein Alter ego, reich mir die Hand! / Nein, wer bist du ... und wer bin ich? / Du bist Soso! / Nein, ich bin Stalin, aber bin ich nicht Soso? / Du bist nicht Stalin! / Ich bin der Führer, der Führer steht nicht Rede und Antwort: Wer bist du? ...“ Noch im Sarkophag hockend, längst tot und scheinbar überwunden, kämpfen Berija und Stalin um ihre Position.

Mit einem Minimum an äußeren und einem Maximum an gestischen und sprachlichen Mitteln treiben die Darsteller das groteske, von Zirkusmusik unterlegte Spektakel auf die Spitze. Und niemals fehlen die vier Männer in den grauen Regenmänteln, die das Publikum auch während der Pause starren Blicks überwachen und am Ende die eifrigsten Klatscher von der Bühne her unverhohlen fotografieren, bis auch der letzte Sowjetfan abgezogen ist.

Sicher entgeht einem deutschen Publikum eine Menge, denn die (sehr gelungene) Synchronisation vermittelt doch nur eine Ahnung von Sprachwitz und -gewalt des Stückes, das (in Anlehnung und Anspielung an literarische Traditionen) in Versen abgefaßt ist. Aber auch „Sprachlose“ werden einen Teil des Tempos und der Brisanz des Stückes spüren. Die Veranstalter sind besonders gespannt auf die Aufführungen in Ost-Berlin, weil sie dort ein anderes Publikum mit einer anderen Geschichte erwartet.

Die Auswahl der auf dem Festival vorgestellten Stücke sei nicht leicht gefallen, da sich die Sowjetunion zur Zeit eines wahren Booms freier Theatergruppen erfreut. Allein in Moskau gibt es rund 200 Studio-Theater. Bis zum 9. Mai werden an zwei Spielstätten (Theatermanufaktur im Westen und Haus der sowjetischen Wissenschaft und Kultur im Osten) sechs Produktionen zu sehen sein von Theaterautoren der Jahrgänge 1904-1948, außerdem eine Inszenierung der Möwe von Tschechow. Darüber hinaus spielt das Pop-Kommando Unfall (ein aus dem Theater der Universität hervorgegangenes politisches Kabarett), und für weniger Sprachbegeisterte wird es Jazzkonzerte geben.

„Die Menschheit verabschiedet sich lachend von ihrer Vergangenheit“, so lautet das Karl-Marx-Motto, unter das die Veranstalter ihr Programm gestellt haben und das sie als verbindendes Motiv für ihre ansonsten sehr verschiedenen Aufführungen betrachten. Mit Sicherheit wird das Festival also keinen Nährstoff für die zur Zeit aufblühende Sowjetnostalgie liefern!

Felicitas Hoppe

„Der schwarze Mann“ wird am Samstag um 19 Uhr im Haus der sowjetischen Wissenschaft und Kultur in der Friedrichstraße 176/179, Berlin 1080 gespielt. (Achtung! Bei Aufführungen in Ost-Berlin keine Simultanübersetzungen!) Diskussionsforum am 29.4. um 16 Uhr dortselbst, am 12.5. eine abschließende Podiumsdiskussion zum Thema „Theater und Politik“ (als Trost für das „Theater-ohne-Politik-Festival“, das im Mai auf uns zurollt); Infos über Programm, Beiprogramm, Konzerte und Workshops bei der Theatermanufaktur, 251 08 18.