„Der Kreuzberger 1. Mai ist überflüssig geworden“

■ Gedanken des ehemaligen Kreuzberger Baustadtrates Werner Orlowsky zum 1. Mai: Der Kampftag der Arbeiterklasse ist zu einem sinnentleerten Feiertag degeneriert / Das Kreuzberger 1.-Mai-Fest ist zum Tummelplatz für eine desperate, militante Szene verkommen

Von allen politischen Feiertagen in Deutschland ist der 1. Mai durch politische Wechselfälle am stärksten einem Bedeutungswandel unterworfen: bis heute.

Kampftag der Arbeiterklasse, um die Rechte und den Anspruch von zwei Dritteln der Bevölkerung auf Verbesserung ihrer Lebens- und Arbeitsverhältnisse zu dokumentieren; „nationaler Feiertag der Arbeit“ im NS-Staat („Betriebsführer und -gefolgschaft“ marschieren in einem Block „harmonischer“ Volksgemeinschaft fürs Tausendjährige Reich). Im Nachkriegsberlin West mächtige Kundgebungen für die Freiheit der Stadt, in Ost-Berlin (mehr oder weniger) befohlene Auf- und Vorbeimärsche der Delegationen „volkseigener“ Betriebe, der „Betriebskampfgruppen“, der „gesellschaftlichen Massenorganisationen“ und der „Nationalen Volksarmee“ an den Tribünen dem Volk zunehmend entfremdeter Machthaber. Schließlich: In der westlichen Teilstadt Retardation auf immer spärlicher besuchten DGB -Kundgebungen, mal hier mal dort für das offizielle Berlin West - Entstehung und Entwicklung eines alternativen, autonomen 1.-Mai-Festes auf dem Lausitzer Platz in Kreuzberg, SO 36, für die immer spärlicher werdende „Bewegung“ der alternativen, autonomen (Sub-)Kultur.

Treffender als durch diese Verwandlungen selbst ließe sich die Degeneration eines ehedem so wichtigen internationalen „Kampf„- und Feiertages wohl kaum darstellen. Seines Sinnes entleert und in der Form verwandelt, ist der 1. Mai besonders in der Zweidrittel-„Wohlstandsgesellschaft“ nur mehr ein weiterer Arbeits-Feiertag, für den vor allem schönes Wetter und der Fall auf Freitag oder Montag erhofft wird, um in ein verlängertes Wochenende rollen zu können. Dies, so scheint mir, könnte durchaus der von der großen Mehrheit der BürgerInnen hüben wie drüben voll akzeptierte gemeinsame Nenner sein. Und damit wäre ja auch Tarifauseinandersetzungen hin oder her - das Ziel erreicht...

Allerdings ist dies nur die halbe Wahrheit. Die andere Hälfte trat und tritt in Kreuzberg in Erscheinung. Hier lebt bekanntlich die jüngste und ärmste Bevölkerung der westlichen Stadthälfte. Hier ist noch immer die „Perspektivlosigkeit“ - insbesondere eines großen Teils der Jugendlichen im Wohn- und Arbeitsbereich - ein ungelöstes Problem, sind Ausbildungs- und Arbeitsplatzbeschaffung, Wohnraumversorgung durch behutsame sozialorientierte ökologische Stadterneuerung und eine (noch bessere) Ausstattung mit der technischen und sozialen Infrastruktur sowie die Überwindung der nur verdeckt gewesenen Ausländerfeindlichkeit zugunsten eines friedlichen Miteinander-Lebens die täglich neu sich stellenden Aufgaben.

Ist Kreuzberg damit die Kehrseite der scheinbar so glänzenden Verhältnisse in unserer Gesellschaft, so hat sich der 1. Mai in Kreuzberg in den letzten Jahren zum Seismographen all dieser nicht aufgehobenen Widersprüche entwickelt, ist zugleich im Verlauf und Auswirkung widersprüchlich und fordert als „Veranstaltung“ Widerspruch heraus.

In den ersten Jahren als gewollte Gegenveranstaltung zu den von offiziellen Festrednern beherrschten Kundgebungen gedacht, entwickelte sich das 1.-Mai-Fest auf dem Lausitzer Platz zu einem Forum von organisierter, lokaler und spontaner Begegnung eines Teils der Kreuzberger, die sonst wenig Grund und selten Anlaß zum Feiern hatten. Man lachte, aß und trank, musizierte, tanzte und stellte - trotz allem auch sichtbarer Unterschiede - die Gemeinsamkeiten zur Schau: ein buntes Volk, viele junge, aber auch alte Menschen, Deutsche, Türken. Es gab Happenings, „Kreuzberger Badebewegung“ (Einweihung des Spreewaldbades durch das Bad des Baustadtrates in der Wanne auf dem Platz). Man demonstrierte alternative Kultur und den politischen Anspruch auf Freiräume zur Verwirklichung des selbstbestimmten (aber auch selbstverantwortlichen) Lebensentwurfes. Oft, aber nicht ausschließlich, waren die Haus(Instand)-Besetzer die gefeierten „Helden“, die entscheidend dazu beigetragen hatten, eine Wende in der Bau und Wohnungspolitik herbeizuführen und damit auch den Benachteiligten in den Stadtquartieren, in den (zu schnell) institutionalisierten Stadtteilgremien ein Mitsprache- und Mitentscheidungsrecht zu verschaffen: lebendige Demokratie. In den Jahren war Aufgeschlossenheit für- und Toleranz gegeneinander vorherrschendes Kennzeichen, das durch Eingriffe der Polizei des damaligen CDU-/FDP-Senates (noch) nicht entwertet wurde. So jedenfalls habe ich die Feste als regelmäßiger Teilnehmer empfunden. Die umwohnende Bevölkerung („Normalbürger“) war ebenfalls zugegen, und wenn's auch (nur) aus Fenstern und von Balkonen war.

Der Bruch vollzog sich 1987. Die Ereignisse und deren Auslöser sind hinreichend analysiert und beschrieben worden: auch Aspekte von Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung. Im Erlebnis ist auch hier festzustellen, daß der Kreuzberger 1. Mai nicht minder verkommen und überflüssig geworden ist, jedenfalls in seiner zuletzt „dargebotenen“ Form und seiner Zielsetzung.

Als Tummelplatz einer zunehmend desperaten, in vielen Fragen trotz demonstrierter Einmütigkeit gespaltenen und deswegen weitgehend militant gewordenen „Szene“ ist er zu schade. Inszenierungen von Gewalt („Erstürmung und Plünderung von Getränke-Hoffmann“) als Pas de deux mit dem „Repressionsapparat des Schweinesystems“, deren „Erfolg“ am Tage danach in den Gazetten wie die Rezension einer Theateraufführung gierig verschlungen wird, bewirkt das Gegenteil „links-revolutionärer Abstinenz“ und entwertet die „Aufführung“ als sektierische Antipolitik. Diese wird auch auf der Straße gemacht, aber von Massen, die friedfertig sind (obwohl entschlossen, und gerade dadurch zur „materiellen Gewalt“ werden). Die Städte der DDR und Ost -Berlin haben die Beweise dafür erbracht. Wir aber müssen da noch viel lehren, auch und besonders unsere „Autonomen“, deren eigener Lebensentwurf nicht zu Lasten anderer, der „gesellschaftlichen Mehrheit“, gehen darf. Daß der Verein SO36 und andere wichtige Stadtteilinitiativen dem diesjährigen 1. Mai fernbleiben, ist richtig und hat gute Gründe: Wir wollen mit allen und nicht gegen die Bürger feiern. Vielleicht wird's was 1991.

Werner Orlowsky