Hauptstadt-SPD nimmt Kurs auf sanften Anschluß

■ Kandidat Schwierzina legt Verfassungsentwurf für den Bereich Ost-Berlin vor / Asylrecht, Ausländerwahlrecht und Datenschutz fortschrittlicher als im Westen

Ost-Berlin. Die Ostberliner SPD hat gestern einen umfassenden Entwurf präsentiert, mit dem der momentane rechtsfreie Raum im gesamten Verwaltungs- und Regierungsbereich in der Hauptstadt bis zu einer Vereinigung der beiden Stadthälften geregelt werden soll. In Ost-Berlin bestehe zur Zeit ein „verfassungsmäßiger Leerraum“, begründete Oberbürgermeisterkandidat Tino Schwierzina den Vorstoß der SPD, und man wolle die Zeit bis zu den Kommunalwahlen noch nutzen, um dann eine vernünftige Grundlage für die Bildung einer neuen Stadtregierung zu ermöglichen.

Der Verfassungsentwurf basiert auf Überlegungen des Berliner Runden Tisches, an denen sich allein die Ost-CDU nicht beteiligte. Grundlage ist die Berliner Verfassung vom 22. April 1948, die 1950 mit wenigen Änderungen für West -Berlin verabschiedet wurde und noch heute gültig ist.

Mit dem Entwurf liegt in der DDR zum ersten Mal ein Konzept für die Bildung eines Landes Berlin vor; bei den Überlegungen des zuständigen Ministers für regionale Angelegenheiten, der die Länder in der DDR wieder installieren will, ist von einem eigenständigen Land Berlin allerdings nicht die Rede. Die SPD will mit ihrem Entwurf auch dieses Vakuum ausfüllen und zugleich Vorschläge für eine spätere Gesamtberliner Verfassung präsentieren.

Nach ihrer Vorstellung soll es zunächst ein Land Berlin auf dem Gebiet von Ost-Berlin geben, das den Status eines eigenständigen Bundeslandes erhält - neben einem Land West -Berlin. Beide Teile der Stadt sollen mit der Vereinigung zu einem Land Berlin zusammenwachsen, später in ein Land Berlin -Brandenburg integriert werden.

Einen umfassenden Grundrechtekatalog, der sich weitgehend am westlichen Vorbild orientiert, enthält der erste Abschnitt des Entwurfs. Im Vergleich zur Westberliner Verfassung möchte die SPD zwei wesentliche Änderungen durchsetzen: Ost-Berlin soll in seinen derzeit bestehenden 11 Stadtbezirken erhalten bleiben. Zum zweiten soll ein uneingeschränktes Wahlrecht für alle Ausländer gelten, die ihren Wohnsitz im Geltungsbereich haben. Auch ein umfassendes Asylrecht soll garantiert werden.

Im zweiten Abschnitt des umfänglichen Entwurfs sind die Vorstellungen für den Aufbau einer künftigen Volksvertretung niedergelegt. Dort soll eine Opposition als unverzichtbarer Bestandteil der parlamentarischen Demokratie festgeschrieben werden. Ähnlich wie im Westen soll für den Einzug in die Stadtverordnetenversammlung eine Fünfprozentklausel gelten.

Die Bildung einer künftigen Stadtregierung, des Magistrats, wird in Abschnitt vier geregelt: Er soll aus einem Oberbürgermeister und 16 Stadträten bestehen - bisher waren es annähernd 30 Mitglieder. Im Gegensatz zur bisherigen Praxis soll die gesamte Verwaltung einschließlich Polizei und Justiz dem Magistrat unterstehen. Im Gegensatz zum Westen soll die Möglichkeit von Volksbegehr und Volksentscheid verfassungsrechtlich garantiert werden.

Ausgesprochen merkwürdig mutet eine Passage über die Rechtsaufsicht an: Da weder in der DDR noch in West-Berlin eine vergleichbare Institution existiere, soll nach Vorstellung der SPD das Karlsruher Bundesverfassungsgericht über die Einhaltung der Verfassung wachen.

Der SPD-Entwurf soll jetzt der Ostberliner Bevölkerung als Diskussionsgrundlage vorgelegt werden und als Grundlage für die von der SPD angestrebte Regierungsübernahme in Ost -Berlin gelten.

Kordula Doerfler