Zeit der gegenseitigen Geschenke

Fußball-Länderspiel BR Deutschland gegen Uruguay endete 3:3 / Eine unterhaltsame zweite Halbzeit sorgte für allseitige Zufriedenheit / Beckenbauers „Zuckerl“ für Raimond Aumann war zu bitter  ■  Aus Stuttgart Matti Lieske

„Der Mensch hat dreierlei Wege, klug zu handeln: erstens durch Nachdenken, zweitens durch Nachahmen, das ist der leichteste, und drittens durch Erfahrung, das ist der bitterste.„ (Konfuzius)

Der Teamchef der bundesdeutschen Fußball-Nationalmannschaft, Franz Beckenbauer, der sich ja vor wenigen Tagen als „alter Konfuzianer“ zu erkennen gab, bevorzugte in der Vergangenheit häufig die bittere, die „Schaumermal„ -Variante. Vor dem Länderspiel gegen Uruguay wechselte er jedoch überraschend zum ersten Weg über.

Eigentlich hatte er vorgehabt, seine Mannschaft mit einer Vierer-Abwehrkette ohne Libero spielen zu lassen, aber, „weil wir in letzter Zeit Probleme in der inneren Abwehr hatten“, entschied er sich schließlich doch noch, seinen Protegee Thomas Berthold zum Libero zu küren. Ein segensreicher Entschluß, denn Berthold hatte mächtig zu tun, all die Löcher zu stopfen, die seine problembeladenen Vorderleute entstehen ließen. Allen voran Jürgen Kohler, der sich gegen den raffinierten und wendigen Ruben Sosa von Lazio Rom heftigst anstrengen mußte.

„Zu sehen, was recht ist, und es gegen seine Einsicht nicht tun, ist Mangel an Mut.„

Schon tags zuvor hatte Beckenbauer deutlich gesehen, daß es nicht recht sei, in der Halbzeit den Torwart zu wechseln. Da erinnere er sich an eine Geschichte, als er mal Uli Stein bis zu Pause aufgestellt habe und dann den Toni Schumacher, und kaum sei der im Tor gewesen, hätte er schon einen drin gehabt.

Trotz dieser leidvollen Erfahrung wechselte er zur Halbzeit den hochgelobten Raimond Aumann ein, und prompt wurde er vom Leben bestraft. Mit seiner ersten Ballberührung durfte der Münchner schon das Leder aus dem Netz holen. Abwehrspieler Herrera hatte Brehme und Bein auf der rechten Seite geschickt ausgespielt und scharf zur Mitte geflankt, wo Carlos Aguilera, den sie „Pato“, Ente, nennen, unbehelligt von seinem Hüter Buchwald herumwatschelte und den Ball ins Netz köpfte. Danach spielten die Uruguayer einige Minuten lang Katz und Maus mit den Deutschen, und fast hätte Ruben Paz nach einer vorzüglichen Kombination das 2:0 erzielt.

Sein Schuß flog jedoch über das Tor'und wie sagte bereits Konfuzius: „Übers Ziel hinausschießen ist ebenso schlimm wie nicht ans Ziel kommen.„

Die Deutschen gaben sich keineswegs geschlagen. Hatten in der ersten Halbzeit auf der rechten Seite Littbarski und Häßler kluge Spielzüge inszeniert, war es im zweiten Abschnitt der linke Flügel mit dem immer stärker werdenden Andreas Brehme, der für Druck sorgte. Uruguays Trainer Tabarez war allerdings am meisten von der Dynamik und Kampfkraft der beiden Spitzen Klinsmann und Völler beeindruckt: „Wenn sie den Ball vorn verlieren, werden sie im nächsten Augenblick zu Verteidigern und holen ihn sich zurück.“

„Der höhere Mensch ist darauf bedacht, zurückhaltend in seinen Worten und rasch in seinen Taten zu sein.„

Ersteres war noch nie die Sache des Lothar Matthäus, doch gegen Uruguay ließen auch seine Taten zu wünschen übrig. Immerhin kann man ihm eine gewisse Lernfähigkeit nicht absprechen. 1986 in Mexico hatte er im WM-Gruppenspiel mit einem wunderbaren 40-Meter-Paß vor das eigene Tor Uruguays Führungstreffer vorbereitet, diesmal spielte er seine Fehlpässe wenigstens konsequent nach vorn. Aber, oh grausame Ironie des Schicksals, ausgerechnet er war es, der mit einem absolut lächerlichen Freistoßtor, einem abgefälschten Ball, der dem schon wie eine umgestürzte Schildkröte am Boden liegenden Torwart Pereira zu allem Überfluß auch noch durch die Beine rutschte, den Ausgleich schaffte. Die Zeit der „gegenseitigen Geschenke“ (Beckenbauer) hatte begonnen.

Rudi Völler, der in Italien seiner gewohnten Bissigkeit noch eine gehörigen Schuß Brutalität hinzugefügt hat und zweimal versuchte, Uruguays Ersatzersatztorwart Pereira ebenfalls noch ins Krankenbett zu treten, gelang mit einem wunderbaren Kopfball nach Flanke von Brehme die Führung, doch die Männer vom Rio de la Plata ließen sich nicht lumpen, und Ostolaza schoß nach artistischem Dribbling des 22jährigen Ruben Pereira das 2:2.

Wiederum Torwart Pereira ermöglichte Klinsmann das 3:2, indem er eine Flanke unterlief, was Aumann auf der anderen Seite so gut gefiel, daß er es dem Kollegen sogleich nachtat und Revelez den erneuten Ausgleich köpfen ließ. Ein „Zuckerl“ habe er Aumann nach dessen guten Leistungen der letzten Zeit verabreichen wollen, sagte Beckenbauer anschließend, „aber wie man gesehen hat, war das ein Fehler“. Die Diskussion um die Nummer 1 im Tor hat er jedenfalls erstmal vom Hals, und er wirkte fast glücklich darüber.

Überhaupt herrschte nach dem Schlußpfiff allenthalben eitel Freude. Uruguays „Maestro“ Tabarez fand, daß seine Elf „auf einem guten Weg“ sei, die 35.000 im Stadion hatten ein unterhaltsames, torreiches Spiel gesehen, und selbst der konfuzianische Teamchef gestand grummelnd, daß er alles in allem, in Anbetracht des Gegners, der Umstände und überhaupt, doch eigentlich, wenn man so will, einigermaßen zufrieden sei.

Wie sagt doch, Konfuzius möge verzeihen, Joh.Nepomuk Nestroy: „Wenn nur der Kutscher klar sieht, dann wird auch mit blinden Pferden das Ziel erreicht.„ BR DEUTSCHLAND: Illgner (46. Aumann) - Berthold, Buchwald, Kohler, Brehme - Häßler, Matthäus, Bein (68. Thon), Littbarski - Klinsmann, Völler

URUGUAY: E. Pereira - Herrera, Revelez, de Leon, Dominguez Ruben Pereira, Ostolaza, Perdomo, Paz (70. Fonseca) Aguilera (79. Martinez), Sosa.