Das Motiv bleibt im Dunkel

■ Die Kölner Kripo hatte viele Stunden nach dem Anschlag auf Lafontaine die Attentäterin noch nicht vernommen

„Ich soll euch von Oskar grüßen. Er ist über den Berg und hat sogar seinen Humor wiedergefunden.“ Jochen Vogel war gestern morgen als erster am Krankenbett. Nach einer Nacht, in der alle um das Leben von Oskar Lafontaine gebangt hatten, überbrachte er die erste beruhigende Nachricht: Der SPD-Kanzlerkandidat schwebe nicht mehr in Lebensgefahr. Um 5.00 Uhr früh war Lafontaine aus der Narkose erwacht. Sein Kreislauf, so die Ärzte der Kölner Uniklinik in einem Kommunique, habe sich stabilisiert, er befinde sich „in einem den Umständen entsprechenden, zufriedenstelllenden Zustand“.

Fast wäre Oskar Lafontaine verblutet durch den Messerstich, der ihn an der rechten Halsseite nur ganz knapp neben der Halsschlagader schwer verletzte. Eine mitreißende Wahlkampfveranstaltung für die NRW-SPD in der Köln -Mühlheimer Stadthalle vor über 3.000 ZuschauerInnen endete mit einem brutalen Attentat auf den saarländischen Ministerpräsidenten. Der NRW-Ministerpräsident Johannes Rau, der am Mittwoch abend direkt neben Lafontaine auf dem Podium gesessen hatte, war am Donnerstag noch vom Schrecken gezeichnet. „Wir haben gestern abend nebeneinander gestanden“, sagte er gestern morgen vor der Kölner Uniklinik zu einer WDR-Reporterin. Er fühle sich so, „daß es gut wäre, wenn ich auch im Krankenhaus wäre“. Dann brach seine Stimme ab.

Gestern Nacht vor dem Bettenhaus der Uniklinik Köln -Lindenthal: Ein paar Kerzen brennen auf dem Rand eines Blumenkübels vor dem Pförtnerhaus. Davor eine kleine Gruppe Menschen, leise redend, ab und zu glimmt eine Zigarette auf. Mitternacht ist vorüber. Willy Brandt, Jochen Vogel und Johannes Rau, die nach dem Attenat zur Klinik geeilt waren, in der ein Ärzteteam, Oskar Lafontaine operiert hatte, sind wieder verschwunden. Noch sind die Meldungen widersprüchlich: ob der Kanzlerkandidat der SPD weiter in Lebensgefahr schwebt, weiß niemand genau. Blitzlicht und Gedränge zur selben Stunde auf der ersten Pressekonferenz nach dem Attentat im Kölner Polizeipräsidium. JournalistInnen bestürmen die Leiter des ersten Kommissariats der Kripo, Reinhard Fischer mit Fragen. Wie kam das Messer auf die Bühne, wie heißt die Attentäterin? Wo wohnt sie? Stimmen erste Gerüchte, daß sie in psychiatrischer Behandlung ist? Was hatte sie in ihrer Tasche. Welches politische Motiv hatte sie für die Tat? Einige der JournalistInnen waren selbst in der überfüllten Mülheimer Stadthalle, sie sind schockiert, sie wollen Antworten. Über vier Stunden sind vergangen, seit Oskar Lafontaine blutend auf dem Podium zusammenbrach.

In dürren Worten schildert der Pressesprecher der Kölner Polizei, Alfons Selt, den Tathergang. Reinhard Fischer auf die vielen Fragen: „Wir haben die Frau noch nicht vernommen. Die Journalisten reagieren ungläubig. Nicht vernommen? Niemand hat sie gefragt? Was sagen die Beamten der Schutzpolizei, die sie abgeführt haben? Fischer: „Dazu will ich nichts sagen.“ Und weiter: „Wir haben Zeit mit den Ermittlungen.“ Es sei nicht üblich, daß „eine Person zu diesem späten Zeitpunkt noch vernommen wird.“ Dies gelte auch für einen solchen Fall, in dem wie Fischer gestelzt herausbringt, „die Persom des Opfers aus dem üblichen Rahmen fällt.“ Die Attentäterin stehe unter einem für die Vernehmung ungünstigen erheblichen psychischen Druck und brauche Ruhe. Sie befindet sich, so Fischer, in Polizeigewahrsam im Präsidium und „schläft jetzt oder was?“ kommentiert ein Journalist zynisch.

Keine Angaben zum Motiv

Auf die Frage nach einem möglichen politischen Motiv - erste Gerüchte kursieren, sie sei bei den „Republikanern“, sagt Fischer: „Wir haben ganz schwache Informationen, die dahin deuten, wie die zu werten sind, kann ich zur Zeit nicht sagen.“ Diese Hinweise kämen aus der Öffentlichkeit. Auch dazu, ob die Frau möglicherweise geistesgestört ist, vorbestraft sein könnte und was Zeugen geschildert haben, macht Fischer keine Angaben.

Die Attentäterin heißt Adelheid Streidel, ist 42 Jahre alt und kommt aus Bad Neuenahr. Das ist alles, was über sie und ihr Motiv in dieser Nacht in Köln zu erfahren ist. Zu sehen ist das grobe Messer, mit dem sie auf Lafontaine eingestochen hat. Es liegt auf dem Tisch in einer Plastiktüte, an der breiten langen Klinge ist noch Blut. Kameraleute drängen, JournalistInnen steigen auf Stühle, um besser zu sehen. Eine erbärmliche Szenerie, die Preseekonferenz ist zu Ende.

Die Veranstaltung in der Mülheimer Stadthalle geht gerade zu Ende, die Düsseldorfer Wirtschaftsministerin Anke Brünn verabschiedete die ZuschauerInnen, als die Attentäterin mit zwei Blumensträußen und einer Tasche in der Hand im allgemeinen Aufbruch von einem Ordner aufs Podium geleitet wurde. Zweimal war sie zuvor abgewiesen worden. Zeugen berichteten, daß die Frau im weißen Kleid bereits eine Stunde vor Beginn der Veranstaltung auf ihrem Platz in der zweiten Reihe saß. Sie überreichte Lafontaine einen Blumenstrauß und zog dann ein Buch aus ihrer Tasche, daß der Kanzlerkandidat signieren sollte.

Als Lafontaine sich vorbeugte, zog sie das Messer, das sie in dem anderen Blumenstrauß versteckt hatte, und stach zu. Oskar Lafontaine griff sich an den Hals, sofort drang Blut durch seine Finger. Mit schmerzverzerrtem Gesicht brach er zusammen, riß Gläser und Tischtuch mit sich. Sofort bemühten sich Sanitäter um ihn, versuchten, die stark blutende Wunde zuzudrücken. der Kölner Oberbürgermeister, Norbert Burger, holte einen Notarzt.

Eine halbe Stunde lang versorgten Ärzte den in seinem Blut liegenden Ministerpräsidenten, spritten ihm ein herzstärkendes Mittel und legten eine Infusion an. Dann legten sie Lafontaine auf eine Bahre und trugen ihn hinaus. Ein Notarztwagen der Johanniter Unfallhilfe raste mit ihm in die Uniklinik in Köln-Lindenthal. Der Messerstich, so die Ärzte am Donnerstag, habe Lafontaine unmittelbar an der Halsschlagader getroffen.

Vor der Stadthalle informierte Hans-Jürgen Wischnewski die entsetzte Menschenmenge über das Attentat und bat die Leute, nach Hause zu gehen. Dicht gedrängt in der überfüllten Stadthalle hatten sie eben noch dem SPD-Kanzlerkandidaten zugejubelt. In einer bissigen, kraftvollen Rede hatte Lafontaine den Nordrhein-westfälischen CDU -Spitzenkandidaten, Norbert Blüm und Bundeskanzler Kohl heftig angegriffen. Seine Themen: Soziale Gerechtigkeit, der ökologische Umbau der Industriegesellschaft und Abrüstung waren gut rübergekommen. 14 Wahlkampfveranstaltungen standen in NRW auf dem Programm. In Köln-Mülheim lief er zu seiner besten Form auf.

Bettina Markmeyer, Köln