„Haben zu lange geschwiegen“

■ Tschernobyl beherrscht sowjetische Öffentlichkeit

Berlin (taz) - Vier Jahre nach der Tragödie ist die Sowjetunion überwältigt von den Leiden der Opfer. Am „Tag der Trauer“ in der Ukraine beschloß der Oberste Sowjet in Moskau ein Notprogramm zur Umsiedlung von bis zu 200.000 weiteren Menschen aus der Todeszone. Neue Horrorzahlen schrecken die Weltöffentlichkeit auf. Allein 800.000 weißrussische Kinder müßten wegen Strahlenschäden medizinisch behandelt werden.

Eine 24stündige Sendung im sowjetischen Fernsehen löste eine Welle der Hilfsbereitschaft aus. Insgesamt 23 Millionen Rubel (65 Millionen DM) und eine Million Dollar (1,7 Millionen DM) waren bis zum Nachmittag auf den Spendenkonten für die Opfer eingegangen. Bei Streiks, Demonstrationen und Protestveranstaltungen verlangten Zigtausende innerhalb und außerhalb der UdSSR den Verzicht auf die Atomenergie. Der Sprecher der Nachrichtensendung Wremja, offenbar überwältigt von der eigenen Berichterstattung, gestand: „Wir haben zu lange geschwiegen.“ Am selben Tag wandte sich Ministerpräsident Ryschkow gegen den Baustopp für weitere Atomkraftwerke in der UdSSR.

In der DDR blockierten gestern AtomkraftgegnerInnen die AKW -Baustelle in Stendal. Die Bonner Parteien gaben sich am Abend vor dem Jahrestag ein peinliches Stelldichein: Für eine von den Grünen im „Hohen Haus“ beantragte Tschernobyldebatte nahmen sich kaum 20 Abgeordnete Zeit.

gero