Sprachtrümmer, Panzersätze, Protzworte

■ Rostocker Volkstheater in Bremen / Lesung von Dokumenten des Stalinismus

Fünf Personen sitzen auf einer Bühne und verlesen Papiere. Das ist jetzt vielleicht schon die halbe DDR. In den Papieren stehen Fälle geschrieben, Fälle von Kaltem Bürgerkrieg.

Bei den Papieren handelt es sich um Artikel aus Gesetz-und Wörterbüchern und um Artikel aus der Rostocker Ostsee -Zeitung. Bei den Personen handelt es sich um drei Männer und zwei Frauen vom Rostocker Volkstheater. Sie verlautbaren „Rostocker Universitätsprotokolle zum Stalinismus“. Am Donnerstag abend haben sie ihr Programm im Kultursaal der Angestelltenkammer zu Bremen vorgestellt. Es trägt den Titel „Das durfte nie wahr sein„. Das ist ein Satz, mit Händeringen zu sprechen.

Wir hören Sprachtrümmer und Panzersätze. Dazwischen erhe

ben sich, auf Protztreppen aus lauter Genitiven, die Haupt -und Staatswörter. Wir hören Anordnungen marschieren, bumm, zack, und hören hilflose Wörter davonrascheln.

Dann dröhnt ein Satz: „Geht hin und kämpft für die Seele eures Volkes“. Der Satz ist dumm, aber die Staatsmacht hat ihn bekämpft. Arno Esch, ein Liberaler, hat es geliebt, ihn am Ende seiner Reden zu äußern. Arno Esch ist Ende der Fünfziger zum Tode verurteilt worden. Später ist er, heißt es, in der Sowjetunion verschwunden. Er hatte einen „wippenden Gang“. Wir erfahren, was die Staatsmacht mit ihm gemacht und welche Worte sie dafür verwendet hat. Er ist, hat sie gesagt, ein „Querulant“ und „würdigt die Staatsmacht herab“. Wir erfahren nicht, was Arno Esch gewollt

hat.

Eine Frau liest eine Verurteiltenliste vor. Namen, Zahlen, Jahre, Haft, Urteil, Zuchthaus, entlassen wann. Professoren, Professorinnen, Studenten, Studentinnen. Es gibt hierzulande seit Jahrzehnten eine Vereinigung ehemaliger, also rübergemachter Rostocker Studenten (VERS). VERS hat, unter dem Namen Thomas Ammer, in Köln 1969 ein Buch herausgegeben, welches heißt: „Universität zwischen Demokratie und Diktatur“. Darin sind alle VERS bekannten Fälle versammelt.

Wir hören, was zu den Fällen in der Ostsee-Zeitung geschrieben steht. Der große Stalin, wumm, die Aufweichungspolitik des Feindes und konterrevolutionäre gewisse Personen, wenn nicht Umtriebe, auch volksschädliche, je

denfalls keinesfalls linienmäßig korrekt auf parteimäßigem Standpunkte errichtete Positionen, welche allein unaufhaltsam, nicht wahr. Wir erfahren nichts. An der Universität Rostock arbeitet nunmehr ein Rehabilitations -Ausschuß.

Es ist keine Rede davon, was in diesem Staat geschehen ist. Allen ist ihr Leben widerfahren. Es stellt sich heraus: Die Obrigkeit war schlecht, man hat sie, erstens aus Reflex, zweitens zurecht gehaßt. Schlimm wäre, wenn auch die Obrigkeit, die aus den Nazi-Lagern nach Wandlitz überführte, ihre Bevölkerung erstens aus Reflex, zweitens zurecht gehaßt hätte.

Nach der Lesung findet das Gespräch sogleich die „moralische Frage„. Eine moralische Frage ist, meint einer aus Rostock, wer

wann wo war. In der Stasi oder vielleicht anderswo. Diese Frage sollte eine Rolle spielen, sagt er, ein ehemaliges CDU -Mitglied. Dabei ist die Antwort auf diese Frage nichts als eine Ortsangabe.

Eine der beiden Frauen sagt, man wisse jetzt nicht so recht wohin, man habe ja seit langem „sozusagen einen enormen Intelligenzexport getätigt“, nun fehlen die Köpfe; auch „geht es jetzt viel zu schnell, von wegen dem Kohl und seinen Bockwurschtfesten“.

Schon fängt das Rostocker Volkstheater an, Leute zu entlassen; man kann nicht mehr alle bezahlen. Die Ensemblekultur wird sich nicht halten lassen. Die Frau ist traurig darüber, denn „es gab schon Sachen, die nur bei uns wachsen konnten, vielleicht grau und klein und häßlich, aber unsers.“ scha