Über „Abörter der Literatur“

■ Neuester „horen„-Band über Tagebücher und andere Selbstentwürfe / Bilanzen der Seele

Vielleicht war es so ein „grünes Buch mit gepolsterten Kunstlederdeckeln und jenem obligaten Schloß und Schlüsselchen“, das erste Tagebuch im Alter von ungefähr vierzehn. Wie bei der Schriftstellerin Christine Lehmann, die später ihre Einträge niemals wiederlas, um einem Problem zu entkommen: daß man nachher zu oft von der „Dümmlichkeit“ und „Unfähigkeit“ gepeinigt wird, dem „banalen Pathos“, das aus den eigenen Zeilen dröhnt. Tagebuchtexte sind meist vorläufige Ich-Entwürfe, (Re)konstruktionsversuche und der literarische Ort, wo man einmal über seine Verdauung schreiben darf. Arno Schmidt: „Abörter der Literatur“.

Mit dem ersten Quartalsheft '90 der horen erschien jetzt Teil 2 des „Alphabets der Erinnerung. Das Erscheinen der Menschen in Schrift und Bild - Erinnerung & Fiktion“. Herausgegeben hat es der Ex-Bremer Maler, Grafiker und Autor Peter K. Kirchhof, nachdem vor Jahresfrist Teil 1 erschienen war. Nun also liegt ein facettenreiches und kundiges Heft über das Tagebuch u.a. Selbstentwürfe vor, mit Streifzügen durch die Literaturgeschichte, Tagebüchern übers Tagebuchschreiben, der Vorstellung von Protagonisten autobiografischen Schreibens und einer „kleinen Galerie der Selbstporträts“.

„Elende Fälscher“

Nach der Ich-Hochkonjunktur der Siebziger in Literatur und Kunst versuchen die horen so etwas wie ein Resumme des neuen Egozentrismus. Die Eckpunkte des Diskurses markieren Äußerungen von Peter Weiss („Ich schildere mein eigenes Leben, ich kann nicht mehr trennen zw. Erfundnem u. Authentischem - es ist alles authentisch ...“) und Martin R.Dean. Der Schweizer Schriftsteller hält jeden Biografen, der anderes als das „heillos disparate Leben“ abbildet, für einen „elenden Fälscher“. Überblickt man das vorliegende Mate

rial, stößt man - es könnte nicht anders sein - auf eine Fülle solcher Fälschungen.

Hierhin bitte

die „horen“

„Buchhaltung der Seele“ nennt Christine Lehmann die ihrer Ansicht nach typischchristlich-pietistische Form der (allabendlichen) Selbsterforschung in Form einer Bilanz, die, wie schon beim englischen Staatsbeamten Samuel Pepys im 17.Jahrhundert, keine Entlausung und kein Gattinnengequengel ausließ. Der Nürnberger Ex-Kulturdezernent („Glucke der Soziokultur“) Hermann Glaser beschreibt seine eigene „Erinnerungsarbeit“ als den Versuch, seiner „Leibexistenz“ eine „Textexistenz“ an die Seite zu stellen: „Ich -Konstruktion“. Die Düsseldorfer Autorin Ulrike Tillich nimmt ihren Rentenbescheid als auf seine Weise „vollkommen wirklichkeitsgetreue Biographie“.

Sucht nach Intimität

Peter Roos, Schriftsteller aus Marktheidenfeld/Main, bietet in zwei Beiträgen zwei Konstruktionskonzepte an: In „Richtung Riemenschneider“ spinnt er einen Lebensfaden anhand der „Begegnungen“ mit dem Bildhauer; im „Tagebuch -Tagebuch“ hangelt er sich von Valery zu Andy Warhol, den „Hitlertagebüchern“ zu Klaus Mann, er stößt auf „Suizid -Journale“ und Logbücher; und reflektiert sein eigenes Schreiben („Tagebücher sind die letzten Reservate für die Körperlichkeit des Schreibens“). Und diagnostiziert „Sucht nach Intimität“ und fremdem Leben.

Mit der LeserIn taucht ein hier vernachlässigter Aspekt des Themas auf, der mehr oder weniger heimliche Adressat der klandestinen Schriften. Denn auch ein tresorgesicherter Text hat ein „Du“, ist Rechtfertigung, Image-Nachbesserung und irgendwo Manuskript für eine wannauchimmer Veröffentlichung. Bu

Weitere Beiträge u.a. zu Tucholsky, Danilo Kis, Gernot Wolfgruber, WOLS, Friederike Mayröcker. Selbstporträts u.a. von Prechtl, Haffner, Zademack, Gunnar Wolf, Gorella. All das in: „die horen“, Heft 157, hrsg.v. K.Morawietz, NW -Verlag Bremerhaven, 216 S., DM 15.