Kleinsein: eine vergessene Krankheit

■ Erster Treffpunkt für kleinwüchsige Kinder und ihre Angehörigen in Bremen / Was Kleine tun können und ihre Angehörigen wissen sollten

Stellen Sie sich vor: Diese taz wäre dreimal so breit und doppelt so hoch: Sie könnten sie mit beiden Armen nicht auseinanderfalten. Stellen Sie sich vor: Der Garderobenhaken hängt auf der Höhe des Türrahmens. Die Kaffeekanne wiegt wie ein Eimer. Das Zahlbrett in der Straßenbahn ist in ihrer Kopfhöhe. So ähnlich geht es den kleingewachsenen Menschen in der „normalen“ Welt. Rund 200 Männer und Frauen gibt es allein in Bremen, die eben nur zwischen 90 und 1,30 Zentimeter lang werden. Und ihnen, von Herz- und Ahnungslosen als „Zwerge“ oder „Liliputaner“ angesprochen, nützt der Hinweis auf Napoleon herzlich wenig.

Seit wenigen Tagen gibt es ein Haus in der Bremer Neustadt, in dem ist alles - ein bißchen - anders. Die Lichtschalter liegen für Normalgroße fast in Kniehöhe. Die Waschbecken lassen sich mit dem kleinen Finger nach oben und vor allem unten befördern.

Tische, Dusche, Stühle sind verstellbar: Das bundesweit erste Beratungs- und Infomationszentrum für „Kleinwüchsige Kinder und deren Angehörige“.

Der Bedarf ist - riesengroß. Denn wenn Eltern realisieren, daß ihr Kind klein bleiben wird, sind sie meist sehr allein. „Kleinwuchs ist eine vergessene Krankheit“ sagt Karl-Heinz Klingbiel (191 cm), der einen 10jährigen kleinwüchsigen Sohn hat und aktives Mitglied in der Elterngruppe des Vereins ist. Ob ein Kind zu kurz gekommen ist, weil es eine Knochenkrankheit hat, weil Wachstumshormone fehlen, oder auch, weil es psychisch abgelehnt wird - das müssen informierte und sachkundige SpezialistInnen klären, die man erst mal kennen muß.

Was für eine Erleichterung: Mit anderen Menschen in der gleichen Lage sprechen zu können, Tips und Rat zu bekommen! Müssen Kleine in die Sonder

schule? (Nein) Werden sie je Autofahren lernen können? (Klar) Wie kann man die Haus-Klingel erreichbar machen, wo Schuhe anfertigen lassen? Wie finden Menschen mit 130 cm Körperhöhe einen Beruf, eine PartnerIn? Kann, soll man operieren, therapieren?

Der kleine Oskar aus der „Blechtrommel“, der mit drei Jahren beschloß, mit dem Wach

sen aufzuhören, ist gar nicht mal so frei erfunden. Bei Kindern, die geschlagen, mißhandelt, abgelehnt werden, kann das Wachstum stoppen - aus psychosozialen Gründen. „Wenn sie Liebe kriegen, wachsen sie wieder“, weiß Klingbiel. Bei den eher seltenen Fällen von Hormonmangel gibt es oft Hilfe, Therapien auf Krankenschein. Aber die meisten Ursachen fürs Kleinbleiben sind

noch nicht zu beheben. Martialische Operationsmethoden'dauern Jahre und verzerren doch alle Körper-Proportionen.

Die neuen Vereins-Räume in der Hardenbergstraße 56 wurden am Donnerstag von Gesundheitssenatorin Vera Rüdiger eingeweiht, mit einer herzlichen Rede, ganz ohne Ablesen und senatorische Floskeln. Sie sind tiptop und mit ganz viel Eigeninitiative be

troffener Familien renoviert. Das Deutsche Rote Kreuz als Dachverband des Vereins hat sie zur Verfügung gestellt und den Verein auch fest eingeplant, wenn in einigen Jahren auf dem Grundstück ein Neubau für ein Altenpflegeheim entsteht: „Das muß hier eine feste Adresse bleiben“, versprach DRK -Kreisgeschäftsführer Klaus Pietsch. Im DRK ist der Verein korporatives Mitglied.

Hier soll es Fachtagungen und Informationstreffen geben, Lehrerweiterbildung und Öffentlichkeitsarbeit: Weil die Hormonspezialistin meist nichts über Knochenkrankheiten weiß und Lehrer nichts von Wachstumshormonen, ist der Informations- und Beratungsbedarf über Kleinwuchs riesengroß. Aus der ganzen Bundesrepublik kommen schon die Anfragen. „Wir wollen hier auch bautechnisch vorführen, was es alles gibt“, erklärte die hauptamtliche Vereins -Mitarbeiterin Marlis Kawohl. Sie wird Interessierte informieren über Therapien und technische Spezialeinrichtungen, vermittelt Tips und organisiert Kontakte zwischen Betroffenen. Das Symbol des Vereins: ein Regenbogen, für gute und schlechte Tage, für Zufälligkeiten wie Wetter - und wie Wachstum. Susanne Paa

Kontakt: Hardenbergstr. 56, Tel. 556200, 556400