: Wirtschaftspolitik: „Den Zehnten für die Armen!“
■ Der 'Paritätische‘ legt Branchenanalyse vor / Beschäftigungsinitiativen als Wirtschaftsfaktor / 30 Mio. gefordert
Ihr Ruf ist oft schlecht: Sie gelten als Faß ohne Boden, als unwirtschaftlich oder gar überflüssig, sie haben das Image, Strohsterne zu basteln oder Topflappen zu häkeln und Menschen recht und schlecht - eben nur zu beschäftigen: Ausbildungs- und Beschäfti
gungsinitiativen im sozialen Bereich.
Alles Quatsch. Sie sind wichtig, sie sparen und bringen echtes Geld, sie decken Lücken im Bremer Dienstleistungs und Produktionsbereich. Kurz: Sie sind ein ernstzunehmender und von der
Bremer Politik völlig vernachlässigter Wirtschaftsfaktor (vgl. Kasten).
Diese Erkenntnisse und ein entsprechendes Bündel an wirtschaftspolitischen Forderungen erläuterte gestern Albrecht Lampe, Geschäftsführer des Bremer 'Paritätischen‘, vor JournalistInnen. Nach einer Branchenanalyse, die der 'Paritätische‘ ab Februar 1990 per Fragebogen in 19 Mitgliedsorganisationen durchführte, liegt nun erstmalig über diesen statistisch wenig erfaßten Bereich Zahlenmaterial vor. Und mit seinen empirischen Erkenntnissen will sich der 'Paritätische‘ unüberhörbar in die Bremer Wirtschaftspolitik einmischen.
Denn: Die rund 300 Mio. Mark pro Jahr an sogenannter Bremer Wirtschaftsförderung gehen voll und ganz an den Benachteiligten, chronisch Kranken, schlecht Vermittelbaren, Langzeitarbeitslosen vorbei. Mit 25.000 Arbeitslosen und 53.000 SozialhilfeempfängerInnen ist trotz des vielbeschworenen Wirtschaftsaufschwungs zu rechnen. Deshalb die Forderung des 'Paritätischen‘: „Für die rund 10% benachteilgten Bremer BürgerInnen verlangen wir den Zehnten zurück, also rund 30 Mio. im Jahr“ (Lampe). Und dies nicht nur mit dem moralischen Argument sozialer Verantwortung („Auch Kranke und Behinderte haben das Recht, gemäß ihrer Leistungsfähigkeit zu arbeiten und Geld zu verdienen“), sondern mit dem wirtschaftspolitisch stärksten: Es rechnet sich. Lampe auf der Grundlage des statistischen Materials: „das Geld fließt um ein
Vielfaches nach Bremen und in die Region zurück.“
Mit einem Förderprogramm quer zu den Ressorts müsse ein Strukturplan gegen Arbeitslosigkeit und Ausgrenzung entworfen werden, an dem sich Wirtschaft, Jugend/Soziales, Gesundheit, Umwelt und Stadtentwicklung, Finanzen verantwortlich beteiligen. Die eingeforderten 30 Mio. gehörten in einen zu schaffenden
Landesfonds, aus dem Personal-und Sachmittel für Ausbildungs -und Beschäftigungsinitiativen gezahlt werden. Das bringt denen Planungssicherheit und vermindert Reibungsverluste. Bei der öffentlichen Auftragsvergabe, so die Forderung, sind diese Initiativen zu berücksichtigen: Um so geringer sind später die Folgekosten für das Sozialamt, im Gesundheitsbereich, bei der Obdachlosen- und Drogenarbeit.
Die Branchenanalyse fördert zutage, daß die Beschäftigungsinitiativen erstens in gesellschaftlich sinnvollen Dienstleistungs-und Produktions-Bereichen arbeiten und zweitens Lücken füllen, die für normale kleine oder mittelständige Betriebe unattraktiv sind. Sie organisieren betreute Umzüge für Alte und Behinderte, sie sammeln und recyclen Altpapier und verwerten Altkleider, sie bieten Stadtteil-Vollwertküchen, entrümpeln Wohnungen, begrünen Häuser.
Mit VertreterInnen der SPD-Fraktion und SpezialistInnen aus dem Arbeits- und Sozialressort gab es am Mittwoch ein erstes Gespräch über die wirtschaftspolitischen Forderungen. Das Wirtschaftsressort hat bis heute nicht einmal den Eingang der Branchenanalyse per Stempel bestätigt. Daß jetzt Zahlen über Kosten und Nutzen der Initiativen auf dem Tisch der Regierenden liegen, wurde begrüßt. In einer gemeinsamen Klausurtagung mit dem Arbeitssenator sollen die Vorschläge nun debattiert und geprüft werden. Susanne Paa
Die Analyse von Rolf Meyer gibt es beim DPWV, Tel. 321532.
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