„Die Gaffer sollen bloß wegbleiben“

■ Die Gewaltdebatte im Kreuzberger Kiez nach dem 1. Mai 89 ist steckengeblieben / Neben der Wut über sinnlose Militanz herrscht Hilflosigkeit und die Angst, wieder zur Kulisse für Randale zu werden / Die Hoffnung auf ein neues „Wir-Gefühl“ gegen Gewalttätigkeit verlief im Sande

Kreuzberg. Die Feuerwehr hat sich schon gemeldet, bevor sie überhaupt gerufen wurde. Die Personalvertretung appellierte gestern an die Kollegen, sich am 1. Mai bei eventuellen Krawallen nicht provozieren zu lassen. „Bürger und Bürgerinnen“ sind aufgefordert, Rettungsfahrten nicht zu behindern. Die Presseerklärung der Berliner Feuerwehr ist einer von vielen Vorboten auf den 1. Mai im Kreuzberger Kiez. Im Unterschied zu den Jahren zuvor herrscht alles andere als Straßenfeststimmung. Die meisten wollen nur eines: daß ihr Kiez nicht zum vierten Mal in Folge Kulisse für eine Gewaltorgie wird.

Der Schock nach dem 1. Mai 1989 saß den meisten tief genug. Viele - sichtlich befreit von der obligatorischen Solidarität und dem zwanghaften Verweis auf die sozialen Verhältnisse im Kiez - benannten die „Randale“ als das, was sie war: der blanke Irrsinn, angefangen von den kaputten Scheiben beim Türken an der Ecke bis zum Versuch, eine Tankstelle anzuzünden. Kein sozialer Aufstand, keine Militanz gegen Bullengewalt, sondern Lust an der Gewalt, der Kiez als Kulisse, unzählige als Gaffer, die das Spektakel in dieser Nacht dem Fernsehprogramm vorzogen.

Dieser Nacht folgten nicht nur Großeinsätze der Stadtreinigung und Überstunden bei den Versicherungsgesellschaften, sondern auch hitzige Diskussionen in Vollversammlungen und Palavern. In einem „Kreuzberger Manifest“ kündigten die Unterzeichner, Ex -Baustadtrat Werner Orlowsky, ALer Volker Härtig, Rechtsanwalt Johnny Eisenberg und Ex-Europaparlamentarier Benny Härlin, an, solche Krawalle nicht mehr länger hinzunehmen und in Zukunft einzugreifen. Fassungslose Kiezbewohner verfaßten eine Erklärung gegen den „Zerstörungswahn“ und beschlossen: „Wir reden mit euch Vermummten - und bauen eure Barrikaden ab.“ Michael Fröhling vom Verein SO 36, Mitunterzeichner des Manifests, hoffte auf ein „neues Wir-Gefühl“ im Kreuzberger Kiez, auf die Fähigkeit, sich gegen Gewalttätigkeit zu wehren.

Die Emanzipation der Nicht-Militanten schien sich am 8. Juli fortzusetzen, als sich bei einer Demonstration gegen den Parteitag der „Republikaner“ Vermummte von anderen DemonstrantInnen, in der Mehrheit Frauen, entwaffnen lassen mußten. Zunehmend wurde Kritik laut am Ritual der Gewalt, deren politische Rechtfertigung immer mühsamer und verquaster ausfiel. Anstelle der erhofften öffentlichen Diskussion fand Einschüchterung statt. Wer sich öffentlich äußerte, mußte mit eingeschlagenen Fensterscheiben und aufgeschlitzten Autoreifen rechnen. „Wenn du hier das Maul aufmachst gegen diese militante Scheiße, dann siehst du alt aus“, lautete das Resümee einer ehemaligen Hausbesetzerin. Fröhlings Wunsch nach einem „Wir-Gefühl“ hat sich ebenfalls längst zerschlagen; der Verein SO 36 ist mittlerweile selbst Zielscheibe von Pflastersteinen, Besetzungen oder Überfällen. Daß sich die politische und soziale Situation nach dem 9. November verschärft hat, darüber sind sich Autonome und die Leute vom Verein einig.

Doch das Engagement gegen konkrete Probleme wie Drogensucht, Armut oder Wohnungsnot wird in der militanten Szene endgültig als „Sozialschiene“ denunziert. „Und Reformisten, die auch noch aktiv sind“, sagt Mitarbeiter Rainer Sauter, „die stören einfach.“ Vieles deutet darauf hin, daß dieser 1. Mai nicht anders wird als der letzte. Nicht mehr der Brass auf den rot-grünen Senat steht im Vordergrund, sondern der deutsch-deutsche Taumel und das Wissen um die rituelle Bedeutung des Datums. „Am 1. Mai guckt ganz Deutschland nach Kreuzberg“, war unlängst in der Autonomen-Zeitschrift 'Interim‘ zu lesen - eine willkommene Gelegenheit, sich das nach der Öffnung der Mauer wieder mit aller Gewalt in Erinnerung zu rufen - im wahrsten Sinne des Wortes. Abgesehen von autonomen Kiezbewohnern und ihren Besuchern aus dem Bundesgebiet sowie türkischen Jugendlichen, hat es sich inzwischen auch in Neuköllner Schulen und Freizeitheimen herumgesprochen, daß am 1. Mai in Kreuzberg keine Hemmschwellen mehr gelten. Eben das befürchtet auch Jörg Machel, Pfarrer der Kreuzberger Ölberggemeinde, deren Kirche nach dem 1. Mai 1989 Forum für Diskussionen war. Die Debatte über Brutalisierung und Militarisierung im Kiez sei weitergelaufen, aber ohne „gesellschaftliche Breitenwirkung“. Die Wut über den alljährlichen Bürgerkrieg vor der eigenen Haustür ist Hilflosigkeit gewichen. Viele flüchten buchstäblich aus dem Kiez, die Stimmung - so Rainer Sauter vom Verein SO 36 - ist „auf dem Tiefstpunkt“. Vor dem „erwartungsvollen Publikum“ hat Pfarrer Machel am meisten Angst. Die Gaffer, fügt Sauter hinzu, sollen bloß wegbleiben. „Aber die Leute hier aus dem Stadtteil müssen präsent sein und eingreifen.“ (Ich distanziere mich!, der säzzer)

anb