WECHSEL AUF DIE SÄSON

■ Pfiffige Kleinunternehmer machen die schnelle Westmark an der Ostsee

Ne Wechselstube? Nee, die haben wir hier noch nicht. Brauchen wir vielleicht auch gar nicht mehr! Fragen Sie einfach die Leute im nächsten Ort, die helfen Ihnen gern.“ Der Grepo in seinem improvisierten Holzhäuschen schaut uns vergnügt an und witzelt mit seinen beiden Kollegen vom Zoll: „Eigentlich dürften wir denen so was nicht sagen, oder?“ Der neue Grenzübergang auf dem Priwall, der Halbinsel bei Travemünde, wurde erst vor wenigen Stunden bei Blasmusik und Bier feierlich eröffnet - für Fußgänger und Radfahrer.

Umsichtig tasten wir uns mit den Rädern durch das ehemalige Sperrgebiet, durch Ortschaften und Gehöfte wie Pötenitz, Rosenhagen und Brook. Barendorf ist eigentlich nur ein großzügig angelegter Gutshof, die Wirtschaftsgebäude aus rotem Ziegelstein. Die Allee zum Meer - ein unbefestigter Landweg - wird gesäumt von verwitterten Ulmen, die sich, Menschengestalten so ähnlich, ins Landesinnere biegen.

Eine alte Bäuerin steht breitbeinig im weichen Dünensand, die Arme in die Hüften gestemmt. „Fast 30 Jahre mußten wir, wenn wir ans Wasser wollten, bis nach Boltenhagen fahren. Die Ostsee, unser Meer, konnten wir all die Zeit nur riechen.“ Sie fuchtelt mit den Händen in den Falten ihrer langen blauen Schürze. „Ich war schon drüben, vor einigen Wochen, in Travemünde“, sagt sie. „Ich wünschte, meine Enkelkinder könnten den Strand wenigstens in diesem Sommer noch so genießen wie wir früher. Aber die da drüben werden uns wahrscheinlich nicht mal die Frist gönnen“, sinniert sie und schaut dabei bedrückt auf das Maritim und das Spielkasino am anderen Ufer der Lübecker Bucht.

Die Realität hat die Befürchtungen der alten Mecklenburgerin bereits eingeholt: Joint-venture-Pioniere wie Günter Jensen und sein Schwiegersohn Jan, Kleinunternehmer aus Bad Oldesloe in Schleswig-Holstein, wollten die Erschließung der neuen alten Ostgebiete erst gar nicht abwarten. Jan war kurz vor den Osterfeiertagen mit Frau und Tochter in Kalkhorst vorbeigekommen, auf einer Erkundungsfahrt zwischen Lübeck und Wismar. In der örtlichen HO-Gaststätte, die Wirt Volker bereits seit fünf Jahren selbständig führt, waren sie ins Gespräch gekommen, die Unternehmer West und Ost.

Und da steht sie nun, auf dem Parkplatz vor der Kommissionsgaststätte in Kalkhorst, unmittelbar auf dem Grund der Konkurrenz - der Inbegriff deutscher Eßkultur: die mobile Pommesbude. An der einzigen Zufahrtsstraße zum Strand bieten die beiden gutgelaunten BRDler Pommes, Spieße, Hamburger, Schnaps, Cola und Tabak an - zu West-Preisen. Und Volker freut sich über die West-Konkurrenz in seinem Vorgarten, denn er kassiert mit - in D-Mark. „Wir machen hier über Ostern einen Probelauf“, sagt Jan. „Wenn es wärmer wird und die Wessis kommen, stehen wir hier goldrichtig.“ Der Verkehr, der auf dem Vorkriegskopfsteinpflaster gezwungenermaßen behäbig dahinhoppelt, scheint ihm recht zu geben.

Das gemeinsame Ost-West-Unternehmen in DDR -Treuhandverwaltung hat schon Blüten getrieben. In ihrem Bemühen, möglichst viele Kalkhorster an den neuen, an ihren Markt zu binden, schafften es die dynamischen Entrepreneure aus dem Nachbarland, ehemalige SED-Getreue und „Dissidenten“ wieder an einen Tisch zu bringen. Nicht essen wollen die DM -hungrigen Dorfbewohner den frischen Salat, die Paprikas und Apfelsinen; verdienen wollen sie daran. Keiner will den Zug verpassen.

Gleich nebenan, unmittelbar am Fuße der Wurft, der kleinen Anhöhe, auf der in Mecklenburg traditionell die Kirche steht, wird ein alter Bauernhof bis auf die Außenmauern ganz neu hochgezogen. „Das ist ein Arzt aus Lübeck“, weiß Volker, „der schleppt sein Material von drüben hierher und zahlt Arbeitswilligen 5 Mark West oder 15 Ost. Da hat's einige aus dem Ort gegeben, die glatt ihren Job gekündigt haben.“ Auch einer, der Hausmanns Appell, in die vorhandene Produktivkraft zu investieren, individuell gewendet hat.

Henk Raijer