Appenzells „Männli“ sind anders

Im kleinsten Schweizer Kanton haben Frauen noch immer kein Wahlrecht / Am Wochenende stimmen die Männer darüber ab / „Ausrotten wertvoller appenzellischer Werte“ beschworen  ■  Aus Zürich Andreas Wittwen

Alles ist anders in Appenzell-Innerrhoden, dem kleinsten und ärmsten Kanton der Schweiz. Weder politische Parteien, noch Autobahnen oder Kinos stören die friedliche Bergruhe, nicht einmal das Schienennetz der Schweizerischen Bundesbahnen erreicht den Zwergstaat in den östlichen Voralpen. Wo seit Urzeiten Vieh- und Milchwirtschaft betrieben wird, finden sich die letzten Eidgenossen, für die Folklore echt und alltäglich ist und Hackbrett spielen, Schellen schütteln, Jodeln oder Taler schwingen nicht zum ausschließlichen Vergnügen der Touristen dient.

Es liegt auf der Hand, daß es in einem solchen Mikrokosmos leichter fällt, den Wandel der Werte zu bremsen. Man spüre hier, hat ein ergriffener Lokalhistoriker einmal formuliert, „eine feste Einheit, die dem Menschen Geborgenheit gibt und die ihn abschirmt gegen die Begehrlichkeit, die unsere Zeit weckt“. In der Tat gelten die urchigen Appenzeller Puurli als die Superkonservativen in der konservativen Schweiz. „Konservative Anarchisten sind sie, die Appenzeller“ stöhnte die 'Zürcher Weltwoche‘ und blickte in erster Linie auf das Männervolk. Die eigenwilligen Innerrhoder Mannli verweigern nämlich noch heute ihren Wiibern das Stimmrecht auf kantonaler Ebene. (Und was ist daran anarchistisch? d.S.)

Nicht aus Frauenfeindlichkeit, versteht sich, (haha! d.S.) sondern weil sie an der über 600 Jahre alten Tradition der Landsgemeinde hängen. Jeweils am letzten Sonntag im April versammelt sich die stimmberechtigte Bevölkerung auf dem Landsgemeindeplatz in Appenzell-Stadt, um die Kantonsregierung zu wählen und über Sachfragen abzustimmen. Als Bürgerrechtsausweis gilt ein Degen. Das uralte politische Ritual ist eine grandiose Inszenierung, die unter die Haut geht: Nach dem Verstummen der Kirchenglocken und dem stillen Gebet intonieren die strammen Urdemokraten aus voller Brust das Landsgemeindelied. In der anschließenden Diskussion kann jeder rufen, was er will, dann fliegen in freier Abstimmung die Hände gegen den Himmel.

Die Landsgmäänd gibt es zwar noch in vier weiteren helvetischen Kantonen, doch nirgendwo wird direkte Demokratie so gelebt wie im katholischen Innerrhoden. Nur eben: Nirgendwo gebärdet sie sich auch so patriarchalisch. Schon fünfmal hat die Männergemeinschaft ihr Wahlmonopol bestätigt. Dieses Wochenende wird erneut über die Schicksalsfrage Frauenstimmrecht befunden, und wie es scheint, steht die Entscheidung auf des Degens Schneide. Auf der Leserbriefseite des 'Appenzeller Volksfreundes‘ schwappen die Emotionen der sonst so schrötigen Bergler über. Jedes Argument ist gut genug, um das Fehlen der Frauen zu rechtfertigen. Der Landsgemeindeplatz sei viel zu klein für die Frauen (und die Touristen), man solle doch den Männern den einen Tag unter ihresgleichen gönnen, und überhaupt: Wenn die Frauen dabei sind, wer soll dann für Hof, Kinder und Vieh sorgen?

Wer nun glaubt, es seien nur Ewiggestrige, die sich dem Lauf der Zeit widersetzen, irrt gewaltig, viele Junge und...Frauen lehnen die Initiative ab! „Schon früher entschieden die Männer ohne die Frauen - jetzt sollte das auf einmal nicht mehr gehen?“ fragt eine Appenzellerin und liefert die Antwort gleich selbst mit: „Wir wollen nicht Probleme heraufbeschwören, die wir lieben nicht hätten.“ Dem „Gleichheitsgeschrei der Frauenrechtlerinnen“ wird das „Ausrotten wertvoller appenzellischer Werte“ entgegengehalten. Manch einer sieht im 'Volksfreund‘ das Unheil schon kommen und warnt: „Vaterland stehe fest - Deine Söhne wanken!“ Während anderswo europäisches Denken geübt wird, reagieren die knorrigen Innerrhödler mit einer überspitzten Betonung ihrer Eigenarten: „In der heutigen Zeit müsen wir das Alte noch halten, sonst wird uns plötzlich der Boden unter den Füßen weggezogen.“

Schlecht eingeschätzt hat den Eigenwillen der Appenzeller die eidgenössische Regierung in Bern. Nach der Drohung, man könnte das Frauenstimmrecht auch per Gerichtsentscheid verordnen, bekam sie ein trotziges Jetzt-erst-recht zu hören. Das mangelnde Fingerspitzengefühl des Bundesrates mag erstaunen: Bundespräsident Arnold Koler ist nämlich selber ein echter Appenzell-Innerrhoder...