Aus europäischen Regionen ein Superstaat

Im Schnellverfahren soll durchgepeitscht werden, was dreißig Jahre lang nicht zustande kam: die politische Einigung Europas bis 1993 / Wer besetzt die freigewordene Dirigentenstelle nach den Umwälzungen in Mittelosteuropa? / Elf Männer vereint gegen die Eiserne Lady  ■  Aus Brüssel Michael Bullard

Das europäische Zeitalter steht vor der Tür - in weniger als 1.000 Tagen werden sich die zwölf Länder EG-Europas zu einem gigantischen Superstaat zusammenschließen. Der 1. Januar 1993 ist nicht nur Stichtag für den gemeinsamen Binnenmarkt

-an diesem Tag soll dann auch ein föderaler Staat supranationaler Prägung mit über 340 Millionen Einwohnern aus der Taufe gehoben werden. So zumindest träumen die Organisatoren des inzwischen vom „Deutschland-Gipfel“ zum „Europa-Gipfel“ aufgeplusterten Treffens der EG -Regierungschefs heute in Dublin.

Die deutsche Wiedervereinigung gehört dabei schon der Vergangenheit an, bevor sie überhaupt vollzogen ist. Denn im Mittelpunkt der Gespräche stehen nicht mehr - wie ursprünglich geplant - die beiden deutschen Staaten, sondern die EG-Institutionen, die parallel zur Wirtschafts- und Währungsunion demokratisiert werden sollen.

Was über 30 Jahre lang an wirtschaftlichen Interessen und nationaler Borniertheit scheiterte, soll jetzt auf Initiative Mitterrands im Schnellverfahren - notfalls auch ohne Großbritannien - nachgeholt werden: die politische Union der EG als Machtpol für die Neuordnung des Kontinents. Denn seit den Revolutionen in Mittelosteuropa und dem damit einhergehenden Bedeutungsverlust der Supermächte in Europa ist die Dirigentenstelle in Europas Politorchester frei geworden. Diese wollen die EG-Visionäre besetzen, bevor sie von einer gesamtdeutschen Regierung oder einem gesamteuropäischen Gremium in Beschlag genommen werden kann.

„Das Große Europa ändert sich schnell, seine Zukunft ist noch ungewiß. Deshalb ist es wichtig, daß die Zwölf nach über dreißigjähriger Ehe ihre Wünsche und Ziele neu formulieren.“ EG-Kommissionspräsident Jacques Delors schwelgte in symbolischen Superlativen, als er am Donnerstag in Brüssel seine europäischen Visionen formulierte: „Das Große Europa als Raum des Friedens“ brauche die Zusammenarbeit mit den Staaten Mittelosteuropas und der Freihandelszone EFTA. Mit letzterer werden in wenigen Wochen Verhandlungen über einen Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) beginnen - dessen Stichtag soll ebenfalls der magische 1. Januar 1993 sein. Den Ländern Mittelosteuropas sollten die Regierungschefs eine zweite Generation von Assoziierungsverträgen anbieten, empfahl Delors, damit sie sich als „volle Mitglieder eines Großen Europa fühlen können“.

Hilfestellung könnte dabei der Straßburger Europarat leisten: „Der Europarat kann den jungen Demokratien zeigen, was Demokratie ist.“ Eine Mitgliedschaft dieser Länder in der EG bleibt allerdings weiter ausgeschlossen. Eine Mehrheit der Zwölf will vermeiden, daß die armen Nachbarn den Integrationsprozeß der EG hinauszögern. Deshalb wehrt sich Delors auch gegen die Idee, auf der Basis der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) ein neues paneuropäisches Organ zu schaffen, das der EG politisch Konkurrenz machen könnte. „Es kann nicht angehen, daß den kleinsten Ländern erlaubt wird, 'Stop‘ zu sagen.“ Denn dann würden „die EG-Erfahrungen im Papierkorb“ landen. Um das zu verhindern, unterstützt der EG-Chef den Vorschlag des Europaparlaments, auf zwei Regierungskonferenzen im Dezember in Rom sowohl über die noch offenen Fragen der Wirtschafts und Währungsunion als auch über die politische Union zu entscheiden. Wie allerdings eine „demokratisierte“ EG aussehen soll, ist bislang noch recht unklar (s. taz vom 18.4.1990).

Neben dem Europaparlament haben Mitterrand und Kohl sowie der belgische Außenminister Eyskens erste Skizzen in Umlauf gebracht. Die konkreteste stammt jedoch aus Delors‘ Amtsstube: Im Zentrum der Föderation soll demnach eine dynamisierte Kommission als Prototyp einer europäischen Regierung stehen, die mehr Kompetenzen im Bereich der Wirtschafts-, Außen- und Rüstungspolitik besitzt. Dem EG-Rat hingegen kommt in diesem Konzept eine ähnliche Funktion zu wie dem Bundesrat in der BRD. Auf jeden Fall sollen dort Beschlüsse nur noch nach dem Mehrheitsprinzip gefällt werden statt wie bisher in wichtigen Fragen mit Einstimmigkeit. Das Europäische Parlament bekommt mehr Rechte, um den Bedeutungsverlust der nationalen Parlamente auf EG-Ebene auszugleichen. Unterlegt ist dem Ganzen der Grundsatz der Subsidiarität: Er besagt, daß soviel politische Verantwortung wie möglich von Brüssel weg nach unten zu delegieren sei. Mitterrand und Kohl möchten außerdem eine zweite Parlamentskammer einrichten, in der Vertreter der nationalen Parlamente sitzen.

Genaueres über den Transfer von Entscheidungsmacht beispielsweise aus dem Elysee-Palast nicht nur nach Brüssel, sondern gleichzeitig an die föderalisierten französischen Regionen sollen die Außenminister bis zum regulären, die irische Präsidentschaft abschließenden EG-Gipfel am 25. und 26. Juni in Dublin erarbeiten. Wie sie das schaffen wollen, bleibt ihr Geheimnis. Schließlich sind die BRD und Belgien die einzigen Staaten der EG, die bereits föderal organisiert sind. Die Regierungschefs werden auch die Beantwortung der unangenehmen Fragen im Bereich der Sicherheitspolitik delegieren: Soll die Nato durch Frankreichs erneuten Beitritt europäisiert oder zugunsten einer aufgepäppelten Westeuropäischen Union (WEU) an den Nagel gehängt werden?

Schnell abgehandelt werden soll dann auch die Vereinigung der beiden deutschen Staaten. Ein „Signal der Brüderlichkeit und der Solidarität mit den Deutschen“ in Form eines symbolischen Hilfsprogramms für die DDR noch vor der Vereinigung der beiden deutschen Staaten wird nach Ansicht von Delors weitgehend auf Zustimmung stoßen - den Löwenanteil der Kosten für die dreistufige EG-Integration der DDR soll schließlich Bonn tragen.

Statt sich mit lästigen Details zu beschäftigen, werden die elf Männer ihren bereits ritualisierten Eheknatsch mit Frau Thatcher weiterführen. Denn die Eiserne Lady hat sich entschieden gegen eine politische Union ausgesprochen. Was ihr an dem Vorhaben von Mitterrand und Kohl nicht paßt, erklärte der britische Außenminister Douglas Hurd am Dienstag in Paris: Die EG-Institutionen sollen zwar auch seiner Meinung nach eine „größere Rolle bei der Ausübung von Politik bekommen“. Die Vorschläge Mitterrands und Kohls würden jedoch zu einer „zunehmenden Zentralisierung der politischen Strukturen in der EG“ führen. Auch sonst steht die Zukunft des ehrgeizigen Vorhabens von Mitterrand und Kohl in den Sternen. Schließlich ist selbst die für Ende 1992 angepeilte Wirtschafts- und Währungsunion noch ungewiß, denn die Liste der ungelösten Probleme auf dem Weg zum EG -Binnenmarkt ist lang. Deswegen ist man sich in Brüssel hinter den Kulissen auch einig, daß weder die Wirtschafts und Währungsunion noch die politische Union der EG vor der Jahrtausendwende zu verwirklichen sein werden.