Die Frauen wollen kämpfen

Tage nach Aufhebung der Ausgangssperre bleibt die kurdische Stadt Cizre menschenleer. Ein Hundekadaver mit sechs Einschüssen liegt auf dem Mittelstreifen, daneben die Überreste verbrannter Autoreifen. Auf der Seidenstraße patrouillieren die Wagen der Sondereinsatzkommandos und die Soldaten mit geladenen Gewehren. Wer sich hier zu lange sehen läßt, kann von der Straße weg verhaftet werden. Hinter verschlossenen Türen werden Verwundete notdürftig behandelt. Zum Arzt trauen sie sich nicht. Eine Schußwunde zu haben, ist ein eindeutiger Beweis für die Teilnahme an „terroristischen“ Umtrieben und damit Grund genug für eine Festnahme. Es sind vor allem die Frauen, die sich um die Verwundeten kümmern und Medikamente aufzutreiben versuchen.

In einer der vielen Innenhöfe haben sich mehrere Frauen versammelt. Eine von ihnen hat ihren Mann während der Auseinandersetzungen verloren. Doch alle haben sie aufgehört zu klagen oder um ihre Toten zu weinen. Was sie zu sagen haben, klingt nüchtern. Die Tatsachen liegen auf der Hand, die Konsequenzen daraus ebenso: „Von der Türkei erwarten wir nichts anderes mehr“, sagen sie. „Wir wollen unseren eigenen Staat. Glaubst du, wir können der Türkei noch vertrauen? Meine drei Schwestern hier können weder lesen noch schreiben, und solange die Türkei uns unterdrückt, wird es auch keine Schule für sie geben.“ „Wir Frauen sprechen kein türkisch. Wir wollen unsere Muttersprache sprechen. Dafür werden wir kämpfen.“

Viele Frauen sind selbst Opfer der „Rambos“ geworden. Während nächtlicher Razzien wurden sie in ihren Häusern überfallen, ausgezogen und mißhandelt. Etwa 20 Frauen wurden nach dem Aufstand festgenommen. Sie schämen sich nicht mehr, zu erzählen, was ihnen passiert ist. „Wir werden kämpfen“, sagt eine weißhaarige Frau, „und wenn ich nicht nur alle meine Kinder, sondern auch mein eigenes Leben verliere. Wenn ich in meinem langen Leben eines gelernt habe, dann das, daß wir keine Freunde außer uns selbst haben. Wir müssen für unsere Rechte kämpfen, alle Frauen und Männer.“

Dieselbe alte Frau mit ihren fast 70 Jahren ist dabei, als die Bevölkerung von Cizre zwei Tage später die Seidenstraße zurückerobert. 15.000 Menschen demonstrieren vor geladenen Maschinengewehren und schußbereiten Panzern - die Hälfte davon sind, zum ersten Mal in der kurdischen Geschichte, Frauen. Es sind auch die Frauen, die aktiv dafür sorgen, daß sich die nach Stadtvierteln organisierte Demonstration von den Sicherheitskräften nicht provozieren läßt, und damit ein zweites Blutbad verhindern. Nach der Manifestation kommen drei Frauen in das Hotel, in dem die Journalisten versammelt sind. Sie wollen über die Situation der Verhafteten berichten. Die Wachsoldaten haben das Essen, das sie zu ihren Männern ins Gefängnis bringen wollten, vor ihren Augen den Hunden zum Fraß hingeworfen. Das erzählen sie uns auf kurdisch, während sie den Soldaten, die um das Hotel herumstehen, fest in die Augen sehen. Die Frauen von Cizre haben keine Angst mehr. Viele von ihnen haben erst ihre Männer, dann ihre Angst verloren. Beim Aufstand vom 20. März haben sie zum ersten Mal ihre Konsequenzen gezogen.

Lissy Schmidt