Ab ins Jrüne - Der erste 1. Mai vor 100 Jahren

■ Zum ersten 1. Mai in Berlin im Jahre 1890 gab's Krach unter den GenossInnen / Arbeitsruhe gegen Arbeiterproklamation / Die Ausflugslokale in Potsdam und Friedrichshagen waren überfüllt / Arbeitgeber bestraften das Feiern mit Aussperrungen

Als der Internationale Gewerkschaftskongreß 1889 in Paris beschloß, den 1. Mai in allen Ländern als Feiertag der Arbeit zu begehen, rüsteten sich auch die Berliner Gewerkschafter zu diesem Fest. Aber nicht nur diese und die Sozialdemokraten bereiteten sich auf den Tag vor, sondern auch die Berliner Arbeitgeber. Präventiv verkündeten sie, daß jeder Arbeitnehmer, der am 1. Mai nicht zur Arbeit erscheint, mit fünf Tagen Aussperrung bestraft wird. Sie hatten die Polizei auf ihrer Seite, die mit Verhaftungen drohte, falls es zu „Aufmärschen“ kommen sollte. Die Drohungen hatten Erfolg, denn sie entzweiten die Berliner Arbeiterschaft.

Da gab es auf der einen Seite die frisch in den Reichstag gewählten Sozialdemokraten, wie Bebel und W. Liebknecht, denen noch die Angst vor dem gerade überstandenen „Sozialistengesetz“ im Nacken saß und die um alles in der Welt vermeiden wollten, daß es zu Unruhen und „unbesonnenen“ Aktionen kommmt. Sie traten für die Abfassung einer Arbeiterproklamation und für abendliche Feste ein, waren in Anbetracht der aufgeheizten Stimmung in der Stadt gegen eine organisierte „Arbeitsruhe“ und erst recht gegen öffentliche Aufmärsche. Ihre Positionen waren in der Berliner 'Volkszeitung‘ nachzulesen, Franz Mehring war einer der abwiegelnden Autoren.

Die Gegenpositionen waren in der 'Volks-Trbüne‘ zu lesen. Um den 1. Mai herum wurde die Zeitung das Organ der sozialdemokratischen Opposition. Einheitlich war auch sie nicht, im Gegenteil. Die Opposition war eine bunte Mischung von ständebewußten Gewerkschaftern, Maurern, Tischlern, Schuhmachern und Buchdruckern sowie syndikalistisch eingestellten Sozialdemokraten, die mit der Parteileitung unzufrieden waren. „Lokalisten“ nannten sich viele von ihnen, und ihr Einfluß war in Berlin nicht gering. Unfreiwilliger Führer dieser Opposition wurde Max Schippel, Redakteur der sozialdemokratischen 'Volksstimme‘. Es „schippelt“ in Berlin, so hieß es, wenn die Opposition sich zu Wort meldete.

Mit Schippels Unterschrift versehen, erschien Ende März 1890 ein „Berliner Aufruf“, in dem die Arbeiter von ganz Deutschland aufgefordert wurden, an diesem Tag die Arbeit ruhen zu lassen. „In allen Industriestädten, in denen starke Organisationen bestehen, ist der 1. Mai ein Feiertag. Alle Gewerke ruhen! Die Unternehmer sind hiervon rechtzeitig zu benachrichtigen. Im Laufe des Vormittags finden öffentliche Versammlungen statt mit der Tagesordnung: „'Die Achtstundenbewegung‘. Der Nachmittag gehört der Familie. Hinaus ins Freie!“ Der Aufruf entfachte unter den Berliner Genossen einen heftigen Streit, der bis zum Vorabend des 1. Mai nicht ausgetragen war und der bis zur berühmten Revisionismusdebatte vor dem Ersten Weltkrieg andauerte.

Die Beteiligung am folgenden Tag, einem Donnerstag mit „Kaiserwetter“, war deshalb geringer als die Verfasser des Aufrufes erhofften. Wieviele sich nun wirklich auf den Berliner Straßen tummelten, berichteten die Zeitungen nicht. Gleichzeitig stattfindende Streiks und Aussperrungen verwirrten die Statistiker. Aber trotz aller Warnungen wehten überall rote Fahnen mit Mai-Inschriften an den verschiedensten Stellen der Stadt, vor allem im Wedding und in Britz ertönten sozialistische Lieder auf den Straßen.

Der 1. Mai wurde von allen Gruppen verschieden gefeiert. Die einen trafen sich in Ausflüglerlokalen, die anderen in Schankstuben der Innenstadt, die dritten verabredeten sich zu einem gemeinsamen Mai-Ausflug. Die Zimmerer zog es nach Potsdam, dort warteten zwei Dampfer, und der 1. Mai wurde auf den Gewässern der Havelseen genossen. Im Volksgarten von Wilmerdorf trafen sich die Schneider und Schneiderinnen. Mit Bier und Butterbroten lagerten dort rund 1.000 Klassenbewußte unter den Bäumen, es ertönten Arbeiterlieder mit Klampfenbegleitung. Im Moabiter Schützenhaus am Plötzensee trafen sich die Mitglieder sozialdemokratischer Wahlvereine, ebenfalls in der Gaststätte Langmeyer im Grunewalder Schützenhaus. Die Maurer wanderten in den Norden, im Schloß Schönholz trafen sich über 6.000 Berufskollegen. Die Töpfer und Vergolder wählten das entlegene Stolpe in Hermsdorf zum Zielpunkt.

Große Resonanz fand der Aufruf der Berufsgenossenschaft der Former. Fast 10.000 Metallarbeiter trafen sich in der Moosdorfstraße in Treptow. In einem geschlossenen Zug, der sich „Spaziergang“ nannte, wanderten sie in das Waldgebiet von Niederschöneweide. Dort hatte ein Gastwirt mehrere Fässer Bier deponiert, und nach einem Frühschoppen ging es weiter über Köpenick nach Friedrichshagen. Ein Augenzeuge berichtete, daß „der Zug überall mit kräftigem Hurra begrüßt wurde und viele Spielmannszüge die Wandernden mit Marschmusik erfreute“. In Friedrichshagen, in der Literatenschule am Müggelsee, feierten auch die Jungsozialisten. Die beiden Gruppen zogen dann gemeinsam vor das Haus des Volkstimme-Redakteurs Max Schippel. „Ein dreifaches Hoch“ wurde ausgerufen, das der Redakteur auf dem Balkon des Hauses wohlgefällig entgegennahm. Beendet wurde die Maifeier vor den Toren Berlins mit einem Fest.

Diese privat anmutenden Treffen im Grünen wurde von der Presse zum Anlaß genommen, den 1. Mai als völligen Fehlschlag zu bezeichnen. Auch Franz Mehring analysierte in der 'Volkszeitung‘, daß die Arbeiterschaft den Tag im großen und ganzen „abgelehnt“ hat. Die Berliner Arbeitgeber schätzten die Lage realistischer ein. Sie machten ihre Drohung wahr und sperrten Zigtausende aus. Eine Kündigungswelle ging durch die Betriebe, vor allem im Brauereigewerbe. Erst eine Kampfmaßnahme, die den Arbeitern damals wirklich schwergefallen sein mußte, beendete diese Repression. Bis Mitte Mai gab es in Berlin einen Bierboykott, und zwar einen erfolgreichen.

Anita Kugler