Luxuriöser Metropolenkrawall in Kreuzberg

■ 1. Mai: Kreuzberg starrt wie ein Kaninchen auf die Schlange / Daß in Berlin ganz andere Probleme anstehen, davon ahnt man in der kleinen Welt der Randalespezialisten kaum etwas / Das Krawall-Ritual könnte durchbrochen werden, wenn man sich nicht zum Statisten machen läßt

Über Kreuzberg und seinen 1.Mai ist schon alles gesagt. Es geht auch nicht um Argumente. Wer sich vorgenommen hat, Terror zu veranstalten, der tut es ohne Argumente. Man kann sie auswechseln, je nach Bedarf und Großwetterlage: IWF, rot -grüner Senat, diesmal eben das „Vierte Reich“. Die Welt ist groß und schlecht genug, es gibt unendlich viele Anlässe.

Nur, weshalb Kreuzberg dabei kaputtgehen soll, leuchtet niemandem ein. Wer davon etwas hat, ist klar: die Fernsehzuschauer, die vom Sofa aus was erleben, und die Steinewerfer, die ihren Spaß haben wollen, ohne selber den Kopf hinhalten zu müssen. Den halten immer andere hin.

Man dachte, endlich sind die kostspieligen und schwachsinnigen Festivals, mit denen sich West-Berlin „Weltrang“ erobern wollte, vorbei. Aber in Kreuzberg gibt es immer noch Leute, die die große Show abziehen und sich in der Abendschau bewundern wollen. Die Kosten interessieren sie nicht, die bezahlen andere: der Kartoffelladen, der Blumenladen, das Schreibwarengeschäft - zum wievielten Mal schon. Es ist reiner Zufall, daß es bisher keine Toten gegeben hat.

Auf dem Papier und auf den Plakaten steht alles mögliche, und alles hängt natürlich irgendwie mit allem zusammen: das Patriarchat, die Multis, die Neonazis, die Mieten. Aber die Kreuzberger brauchen keinen Nachhilfeunterricht. Wer hier lebt, braucht sich von Stadtzerstörung, Spekulation und alltäglichem Elend nichts erzählen zu lassen, schon gar nicht von Leuten, die aus Kreuzberg wieder verschwinden und zu Mami und Papi zurückgehen, wenn sie die Nase voll haben oder sich ausgetobt haben.

Kreuzberg hat nicht so viele Feste zum Feiern wie der Rest der Stadt, warum macht man dann auch seinen 1.Mai kaputt? Kreuzberg hat endlich einen Park, nach langen Kämpfen, mit viel Geld und Arbeit eingerichtet. Aber es gibt Leute, denen es scheißegal ist, ob es einen Park in Kreuzberg gibt oder nicht, sie interessiert das Schlachtfeld. Sie kapieren nicht, daß hier Menschen leben und nicht Statisten für ihre Inszenierungen. Sie brauchen das Publikum und den widerwärtigen Ghettotourismus.

Armes Kreuzberg! Wie ein Kaninchen starrt es auf die Schlange 1.Mai und hofft, daß es diesmal abgeht ohne Verletzte, ohne eingeschlagene und geplünderte Läden und ohne Straßenkämpfe. Mit jedem kaputten Laden geht ein Stück Nachbarschaft kaputt, mit jedem umgestürzten Auto wächst der Haß und wächst die Angst. Als ob es nicht schon genug davon gäbe. Es ist klar, was noch eine oder zwei solcher Schlachten wie in den letzten Jahren bedeuten: Spaltung, Verfeindung, Angst - das heißt das eine einer Stadt, in der man trotz Schwierigkeiten leben und sich irgendwie durchschlagen kann. Dann wäre geschafft, was die Spekulanten nicht geschafft haben.

Von den Problemen, die in Berlin und Kreuzberg anstehen, ahnte man in der kleinen Welt der Randalespezialisten kaum etwas. Die Ostberliner Bahnhöfe sind voll von rumänischen Flüchtlingen, die nicht wissen, wohin und wie leben, dafür interessiert man sich nicht, aber daß am 1. Mai in Kreuzberg was passieren muß, daß ist klar.

70 Kilometer von hier kämpfen die Polen darum, aus dem Schlamassel herauszukommen und ein menschenwürdiges Leben führen zu können. Sie helfen sich selber, sie kommen hierher und machen ihre Geschäfte, damit es dort bei ihnen wieder bergauf geht. Aber in Kreuzberg kommt keiner auf die Idee, daß man vielleicht etwas gegen die neudeutsche Polenfeindlichkeit tun muß.

Es ist einfach zum Kotzen in Weißrußland, das ist eine Tagfahrt im Zug von Berlin aus, da krepieren, elend und alleingelassen, Tausende an den Folgen des Reaktorunglücks von Tschernobyl, aber in Kreuzberg leistet man sich den luxuriösen Metropolenkrawall. In Prag hat eine Bürgerbewegung gesiegt und das ganze Land verwandelt, in Kreuzberg geht es um das immergleiche blutige Happening, von dem nichts bleibt als Angst und Resignation.

Armes Kreuzberg, jetzt, wo überall in Europa die Bürger einen neuen Anfang machen und die Militärs und Militanten abgewirtschaftet haben. Aber es wird solange so bleiben, wie das Ritual nicht durchbrochen wird. Man könnte es durchbrechen. Man muß nur nicht mitmachen, man darf sich nicht zum Statisten machen lassen.

Martin Dittkamp