1.-Mai-Fest: Eingangstür zur Straßenschlacht

■ In den Aufrufen zur Teilnahme am Kreuzberger 1.-Mai-Fest wird gelogen wie gedruckt: In Wirklichkeit geht es nicht um ein Fest, sondern darum, eine Straßenschlacht auszulösen. Die AL lügt kräftig mit! Danach wird der Joker mit den drei Sozialarbeiter-Köpfen gezogen.

Die Aufrufe zu einem „Fest“ am 1.Mai in Kreuzberg bringen unmißverständlich zum Ausdruck, daß die Veranstalter auch 1990 keine feierlichen Absichten haben. „Studi, spring über deinen Schatten“, fordert ein namentlich nicht gekennzeichnetes Flugblatt (des FU-Asta) Berliner Studenten auf, „schlagt der Stadt das Haupt ab!“ Naturgemäß vermögen sich bei Exekutionen nur sehr wenige zu vergnügen. Eine Art Festkomitee, das auch für die AL und zwei DGB-Gewerkschaften sprach (siehe taz vom 27.4.), erklärte auf einer Pressekonferenz, diese „eigene politische Artikulation gegen das großdeutsche Kapital“ soll „auf jedem Millimeter Straße durchgesetzt“ werden - zu Tanz, Spaziergang und Gespräch wird demzufolge kein Platz bleiben. Der Kreuzberger Bürgermeister, der die Veranstaltung als Vorwand erkannt hatte, hat sie vernünftigerweise verboten - kein Problem für die Veranstalter: ab sofort erwägen sie, ob sie „das Fest“ gleich von Anfang an „mobil ablaufen lassen“ sollen. „Das Fest findet statt, basta!“ heißt es auf Plakaten.

Es ist deutlich, daß es sich bei den Aufrufen um Lügen handelt. In Wirklichkeit geht es um kein Fest, sondern um diejenige Form einer Massenversammlung, aus der heraus sich eine Straßenschlacht am günstigsten auslösen läßt: „1.Mai, Straße frei, nieder mit der Bullizei“, „Bulle, deine Angst ist berechtigt“, so lauten die Mobilmachungssprüche. Trotz der Ergebnisse von 1987 bis 1989 muß das wieder „Fest“ genannt werden, um der Zertrümmerung des Rechtsempfindens unterm 100jährigen Dach des 1. Mai (wo schon immer gelogen wurde, daß sich die Balken biegen) mit augenzwinkernder Entwertung der Begriffe eine irgendwie lustige Wendung zu geben. Tausende „Eingeweihte“ haben darauf „Bock“ und kommen wie auf Befehl. Der Dreh, in Deutschland nicht gerade neu, funktioniert so: Eine mit „Fest“ titulierte Veranstaltung erleichtert mir den Eintritt in die Straßenschlacht, weil volkstümlicher Name, Hurrastimmung und „Bierchen“ es gestatten, der persönlichen Verantwortung zunächst auszuweichen.

Indem die Entscheidung, ob oder in welcher Rolle ich an der Straßenschlacht teilnehmen will, auf später verschoben wird, habe ich Anteil am Erlebnis nervöser, dynamischer Spannung, die mir nassem Sack sonst fehlt, an kollektiver Erwartung des ungewissen, aber garantierten Augenblicks, wo zwar nicht der Führer erscheint, dafür aber Polizei, Alkohol und Infantilismus zuschlagen, auf das gemeinsamste. Die Dummen dabei sind nicht ich und meinesgleichen, sondern die Leute, die den Ernst in der Ironie nicht verstehen: Kinder, viele Ausländer, alte Leute; dann die Polizisten, schließlich alle, die länger leben wollen. Gleichzeitig aber eröffnet „Fest“ - eine wahre Leistung der Begriffsverdrehung - nicht nur die Eingangstür zur Straßenschlacht, sondern bietet nach Totschlaghandlungen auch den Notausgang.

Wenn Pfiffe und Sirenen erst zu Feuer, Gas, Prügeln, Steinen und diese zur allgemeinen Verklumpung und Zerstörung geführt haben, kann ich noch unter den Jammernden verschwinden und mir einreden, ich hätte vorher nichts davon gewußt. Das gilt vor allem für die Veranstalter selbst. Mit der „Fest„-Lüge kann sich z.B. die AL im vierten Jahr erlauben, zur Straßenschlacht aufzurufen, ohne deren Ergebnisse, bislang keine Toten, juristisch oder politisch verantworten zu müssen. Das soll auch dieses Jahr wie am Schnürchen laufen. Nach dem Jux, angesichts brennender oder blutender Wracks, wird die AL den Joker mit den drei Sozialarbeiter-Köpfen ziehen: den „Polizeieinsatz kritisieren“, „die sozialen Probleme des Bezirks beim Namen nennen“, „das Bekenntnis zur Gewaltlosigkeit erneuern“ Prost, Gemeinde!

In den Ereignissen im Osten hat man von den Veranstaltern (angeblich 60 Organisationen) im vergangenen Jahr nichts gehört. Der Zusammenbruch der sozialistischen Diktaturen scheint sie nicht gefreut, die entsetzliche Bilanz der durch lebensfeindliche Dogmen hinterlassenen Schäden und Wunden nicht erschreckt zu haben. Die Chance der Vereinigung von BRD und DDR, mindestens doch, daß der DDR-Bevölkerung eine so schwere Krise, wie sie in Polen herrscht, wahrscheinlich erspart bleiben wird, scheinen sie nicht zu sehen. Aber die ersten freien Wahlen in der DDR nach 1932 und ihre unerwarteten Ergebnisse wurden sofort an der Tankstelle, die zum vorigen 1. Mai angezündet werden sollte, in Anlehnung an eine antisemtische Parole kommentiert: „18. März: Deutschland verrecke!“

Bei der Schimpfe, die die westdeutsche Linke der DDR -Bevölkerung nach der Wahl glaubte verabreichen zu müssen (Schily mit seiner Demonstrationsbanane im Fernsehen, Peter Schneider mit einer arroganten Glosse in der 'FR‘, usw.), ist den Kreuzberger Traditionalisten eingefallen, was ihren 1. Mai über die Runden retten soll. Die gesamten Ressentiments der sich von der DDR enttäuscht abwendenden Linken, die berechtigten internationalen Zweifel und Ängste gegenüber der deutschen Vereinigung, die Streitmasse zwischen den großen Parteien der Bundesrepublik sowie die Stichwörter der alten SED und der neuen Stasi-Mafiosi, dazu die ganze deutsche Kriegsgeschichte: all das wird in Parolen und Geschwätz, mit Kaufhausbränden, Hitlergeburtstagsfeiern und Bekennerschreiben schon im Vorfeld des 1. Mai inszeniert, aufgeschriben und zurückerinnert, um die Straßenschlacht, trotz ihres schlechten Rufs, wieder „ablaufen“ zu lassen.

„Schlagt der Stadt ihr Haupt ab“, schreibt derselbe Asta, der im Oktober im Namen der FU-Studenten noch Honecker Glückwünsche telegrafierte; Mitglieder der DDR-„Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes“ haben sich mit Kreuzberger „Autonomen“ verbündet und organisieren mit AL-Abgeordneten türkische Jugendliche in „Antifa-Gruppen“.

Auch einen „Kinderblock“ soll es in diesem Jahr geben. Diese politische Suppe will überkochen. „Besser raus auf die Straße als heim ins Reich!“ Die Strategen wollen „über alles bisher Erreichte hinausgehen“ ('Interim‘, 19.4. '90): das „Fest auf dem Lauseplatz“ soll einen Salto mortale in die Weltgeschichte, ersatzweise in europäische Fernsehsendungen machen, sendungsbewußt und in Deutsch).

In Wirklichkeit aber bindet die Öffnung der Mauer den abgelegenen Südosten wieder an Stadt-„Mitte“. Plötzlicher Durchzug im Eckchen macht's möglich, den Blick vom eigenen Nabel weg auf die Nachbarschaft zu richten. Es gibt dringende, schwierige Probleme, die aber voller Gelegenheit stecken, das Leben in Stadt und Umgebung vernünftig zu gestalten, sich mit anderen Menschen zu verbinden. Wer die vernünftigen Traditionen und das Milieu im Kiez erneuern will, bleibt am 1. Mai zu Hause, pflegt die Kinder und lernt!

Valerie Dupont