: Wo die Damen die Männer dressieren
Zwanzig Männer brüten beim 2. Internationalen Dame-Turnier in Ost-Berlin die geniale Taktik aus / Erstmals offiziell genehmigte Veranstaltung mit Weltmeistern aus dem kapitalistischen Ausland ■ Aus Ost-Berlin Michaela Schießl
Ein kleiner, düsterer Raum in Ost-Berlin. Zwanzig Männer sitzen sich an zehn Tischen Auge in Auge gegenüber. Gespanntes Schweigen, ab und zu nervöses Flüstern. Aufstehen, rumlaufen, hinsetzten. Alle denken nur an das eine: Damen. Steine werden gerückt, gefolgt von einem flachen, triumphierenden Schlag auf die Spieluhr. Nun läuft die Zeit für den Gegner.
Das Brettspiel, das hier gespielt wird, kennt jedes Kind: Dame. Doch mit dem harmlosen Steinchenschieben unserer Kindheit hat es nicht mehr viel zu tun. Statt auf den bekannten 64 Feldern wird auf 100 Feldern gespielt, was die Kombinationsmöglichkeiten erschreckend erhöht. Die entscheidenste Regel besteht im Zugzwang. Simpel ausgedrückt: Man muß springen, wenn man kann. Und zwar den längstmöglichen Zug. Das klingt zwar harmlos, die Auswirkungen können gleichsam horrend sein. So verwickelt ein schlauer Gegner das durchdachte Spiel plötzlich in unabdingbare Zwangsläufigkeiten, bis man ins offene Messer rennt. Oder aber alle Steine wurden kaltgestellt, zur Bewegungslosigkeit verurteilt. Verloren. Auf dieser Suche nach der genialen Taktik trafen sich zwanzig Teilnehmer beim Zweiten Interantionalen Dame-Turnier in Berlin. Neben den DDR-Spielern waren Gäste aus den Niederlanden und der CSFR zum fünftägigen Kopfzerbrechen angereist. Zwei Stunden Zeit hat jeder Spieler pro Partie, um fünfzig Züge auszuführen. Ist bis dahin noch kein Sieger in Sicht, gibt's eine halbe Stunde Verlängerung pro Person. Meist ist nach 30 Zügen alles klar, dennoch sind Fünf-Stunden-Partien keine Seltenheit und erklären die schlechte Luft im BSG -Vereinsheim.
Trotz dieser Konzenztrations- und Denkleistung wird Dame in der Bundesrepublik nur milde belächelt. Peet Roozenburg, Präsident des Internationalen Dame Verbandes (FMJD) und Ex -Weltmeister, hält das für eine klassische Fehleinschätzung: „Die Regeln bei Dame sind kinderleicht. Dame ist aber weit mehr als ein Kinderspiel.“ Zum Beweis stellt er - scheint's zufällig - Spielsteine aufs Brett. „Wer wird hier gewinnen?“ Klarer Fall, Schwarz kann heimgehen, so die einhellige Meinung. Der Champ lächelt suffisant, legt los. Selbstmörderisch opfert er einen Stein nach dem anderen, läßt sich ohne Ende überspringen, zwingt die Weißen wohin er will. Mit dem vorletzten Stein dann der geniale Coup: Im Kreis hüpft der schwarze leichtfüssig durchs Feld über die weißen Steine, bis kein heller mehr gesehen ward. Gewonnen.
Ungläubiges Staunen, Beifall. Ehrfürchtige Blicke ob der vorgeführten Genialität: Raffinessen wie diese sind noch weitgehend unbekannt in einem Dame-Entwicklungsland wie der DDR.
Wie auch, denn jahrelang waren die DDR-Damefreaks von der Wettkampfszene abgeschnitten. Dame gehörte nicht zu den offiziell geförderten, und schon gar nicht olympischen Sportarten in der DDR. Das erste internationale Turnier in Berlin fand halblegal auf Privatebene statt. Beim zweiten Mal wollte man offiziell werden: Die Berliner Damespieler schlossen sich der BSG Narva an und stellten den Antrag auf Turnierdurchführung. Doch, auweh, auf der Gästeliste des Einladungsturniers standen Namen aus dem kapitalistischen Ausland. Ein Dorn im Auge des damaligen DTSB -Bezirksvorstands, der den Antrag ablederte. Dann fiel die Mauer und damit jegliche Reglementierung: Die Gäste aus Holland durften kommen, die BSG machte gar die nötigen 8.000 Mark (Ost) locker.
Und trotz des bescheidenen Rahmens kamen keine geringeren als der Weltverbandsvorsitzende und der amtierende Weltmeister im Fern-Dame, Anton Schotanus. „Natürlich ist das Niveau hier nicht sehr hoch, aber uns geht es um Publicity und um internationale Kontakte“, erklärt Roozenburg.
Tatsächlich gaben die beiden Alt-Meister in maßgeschneiderten Anzügen Lehrstunden in Damentaktik. Da die weltweit dominierenden Damespieler aus den UdSSR kurzfristig abgesagt hatten, war kein Berliner Teilnehmer den erfahrenen Holländern gewachsen, in deren Heimat Dame traditionell weit verbreitet ist.
Die Meisterschaften dort werden täglich in der Presse verfolgt, von Sponsoren finanziert und vom Fernsehen begleitet. Um die WM kämpfte Roozenholz vor täglich 500 -1.000 Zuschauern im Rathaus von Amersfoort bei Amsterdam, umgeben von Bandenwerbung und Kameraleuten. 100.000 Mark erhielten die beiden Finalisten.
Weniger spektakulär, nicht minder eindrucksvoll jedoch holte Schotanus seinen Titel: Die Weltmeisterschaft im Ferndame wird brieflich ausgetragen. Sechs Jahre lang focht er ob der Langsamkeit der Post mit seinem sowjetischen Konkurrenten, zweitausend Karten später war er Meister.
„Oft denkt man tagelang an nichts als an Dame. Fehler kann man lange nicht vergessen. Physisch muß man voll fit sein“, so der Deutschlehrer. Seine Lieblingsbeschäftigung ist die Problemlösung. Doch auch hier gibt es Unterschiede: „Manche liebes es, Probleme zu machen. Andere wollen ständig schön streiten. Es ist ein andauernder geistiger Kampf, der einen intellektuell vollkommen beansprucht.“ Wer das nicht kapiert und Dame belächelt, der lernt sowieso nicht mehr, meint der Großmeister. Zum Damespiel bekehren will er niemanden, obwohl wissenschaftlich bewiesen sei, daß Dame-Spielen das Denkvermögen fördert.
Doch einige Varianten, wie etwa Blitz- oder gar Blinden -Dame, sind selbst ihm suspekt. 15-20 Züge muß ein Könner schon im Voraus berechnen können, gesteht er zu. Sein Kollege Roozenburg, dessen Spezialtaktiken in mehreren Büchern diskutiert werden, kennt solche Grenzen offenbar nicht: Er spielt 40 Partien simultan und zusätzlich eine blind. Und verliert kaum. So wird es auch er sein, der den ersten Preis von Berlin mit nach Holland nehmen wird: Einen riesigen Plüsch-Teddy und eine Dame-Uhr.
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