Long Tall Dexter

■ Der große Jazz-Tenorsaxophonist Dexter Gordon ist gestorben

Als um 1945/46 der Bebop auf der Jazzszene explodierte und damit die erste Revolution im Jazz eine ganze Generation von Swingmusikern wegfegte, da blies ganz vorneweg, gleich hinter Charlie Parker und Dizzy Gillespie, ein 22jähriger, hochaufgeschossener, supercooler Typ ein rotzfreches, heißes Tenorsax, Chorus um Chorus, bis zur Schmerzgrenze für sich und sein Publikum: Dexter Gordon. Und als 40 Jahre später ein blasses Neobop-Revival der Enkel vorübergehend im Jazzgeschäft blühte, da gab es unter den wenigen übriggebliebenen großen Alten der Bop-Generation einen Grandseigneur und elder Statesman, an dessen Souveränität die jungen Imitatoren sich messen mußten: Dexter Gordon.

Fast zur Kultfigur erhob ihn 1986 der wunderschöne Film von Bertrand Tavernier Round Midnight. Dexters schauspielerische Präsenz noch weit mehr als seine musikalische bewahrte den stimmungsvoll fotografierten Film im großen und ganzen vor dem Schicksal vieler anderer gutgemeinter Jazzfilme: vor dem Absturz in den Kitsch.

Die Filmfigur, die Dexter verkörperte, trug genug autobiographische Züge, um mehr zu sein als eine synthetische Zusammensetzung aus Lebensläufen von in Europa gestrandeten Jazzern. Da war die Sucht, die Sucht nach der Spritze, nach der Flasche, aber vor allem die Sucht nach Musik, nach Glück, nach Frieden und Ausgeglichenheit, da war die musikalische Kreativität, die er sich nicht immer, und die menschliche Würde, die er sich meistens bewahren konnte.

Dexter hielt viel von Stil. Beeindruckt schildert Miles Davis den schicken, schlaksigen Saxophonisten, den er 1945 zum ersten Mal getroffen hatte: Der riet Miles, der schon damals stolz auf seine Eleganz war, erst mal zu einem neuen Anzug: „Ich kann mich mit keinem sehen lassen, der so spießig rumläuft wie du.“ Mit „Long Tall Dexter“ (so sein Spitzname) rumzuhängen, lohnte: Er kannte die Scene, war anerkannt dort. Musikalisch brachte er als erster die Session-Atmosphäre der kleinen After-hours-Clubs auf Platte, in denen die damalige Avantgarde miteinander und gegeneinander spielte: Duelle und Jagden (so die Titel der Aufnahmen) lieferte er sich in rasendem Wechselspiel mit den kühleren Tenorsaxophonisten Wardell Gray und Teddy Edwards und dem nörgelnden, beweglichen Baritonsaxophonisten Leo Parker. Eine Mode war geboren, die dauern sollte. Auch in die schnellsten, nervösesten Themen des schnellen, komplizierten Bebop brachte Dexter Gordon eine erdige Blues-Atmosphäre; mehr noch in langsamen Stücken, in denen sein Feuer weniger spektakulär loderte, aber um so intensiver brannte. Ein relaxter, bluesiger Untergrund war in allen seinen Improvisationen zu spüren, sein federndes Timing und zugleich viriler, voller und trockener Ton ließen ihn damals schon als gereift gegenüber anderen aufgeregten Bebop-Matadoren erscheinen.

Aber nicht nur musikalisch war Dexter Gordon Trendsetter, auch im Drogenkonsum. „Er drückte unheimlich viel“, erinnert sich Miles Davis in seiner Autobiographie. Musik, Karriere, Leben litten darunter; 1953 bis 1955 saß er im Knast. Als er rauskam, war er auch raus aus dem Geschäft. Die Neuerer Sonny Rollins und John Coltrane hatten Elemente seines Stils weitergetragen, Dexter selbst mußte um jeden one night stand und Plattenvertrag bei Kleinstfirmen froh sein.

Anfang der sechziger Jahre wich er nach Europa aus, nach Paris und Kopenhagen, einer der vielen „expatriates“, die drüben um Jobs betteln mußten und hier Stars waren, die drüben als Schwarze ständig Ärger hatten und hier auf bewundernde Toleranz stießen. Sein Spiel hatte inzwischen geradezu klassische Qualität gewonnen. Eine Reihe von Blue -Note-Platten fängt diese entspannten Höhepunkte überzeugend ein, darunter Our Man in Paris mit den Emigranten -Kollegen Bud Powell und Kenny Clarke und dem Bassisten Pierre Michelot. 14 Jahre lang kehrte er nur zu kurzen Gigs in die Staaten zurück: „Nicht in New York zu spielen, das hat mir fast das Herz gebrochen“.

1976 zelebrierte er dann mit einem sensationellen Gaststpiel im New Yorker Traditionsclub „Village Vanguard“ sein Homecoming, von dem CBS ein Album veröffentlichte. Kritiker Robert Palmer beobachtete den Heimgekehrten: „Seine Stimme ist wie sein Ton auf dem Saxophon warm, selbstsicher, tief und resonant.“ Und: Er hat „Charme, Ausstrahlung, einen bestimmten natürlichen Magnetismus“.

Dexter Gordon starb am Mittwoch letzter Woche in einer Klinik in Philadelphia an Nierenversagen. Er war dort seit mehreren Wochen wegen Kehlkopfkrebses in Behandlung gewesen.

Carlo Ingelfinger