ZWISCHEN DEN RILLEN

 ■  Ist es das Alter, der Frühling?

Eine Stimme - doch woher?/Vielleicht mein Name - vielleicht du/Alles neblig alles rauh.“ Das hört sich verdammt nach Ulla-Hahn-Lyrik an, ist aber von einer Karlsruher Band namens „Kissin‘ Cousins“. Obwohl ich solcherlei Wortgeschmeide im Grunde zum Fürchten finde, hat mir ihre LP „Halbtotsicher“ gefallen. Ist es das Alter, der Frühling? Ein bedauerlicher Anfall von Schwäche? Nein, es muß etwas damit zu tun haben, daß hier hörbar Herzblut geflossen ist, daß einer im wilden Entschluß dichtet, die Steine zu erbarmen und sein Herz dabei wie ein krankes Kind zu halten.

Tabugrenzen hinsichtlich der Metaphernwahl kennt diese Lyrik keine. „Kommkommkomm leg dich nebe mich/Oh komm laß dich an deinem Hemdchen ziehen/Bitte zeig mir was die Venus ausgemacht/Ein heißer Funke...“ Besonders lange ist es nicht her, daß man solches Balzgebaren anders beschrieben hätte, wirklich ganz anders (zum Beispiel „Spritz spritz, das is'n Witz“). Aber wahrscheinlich ist alles Lockere, alles Sex-Habenwollen-und-es-auch-Sagen durch Scharen von Lockerfuzzis, Rangehern und Beischlaf-Greinern so gründlich diskreditiert, daß diese offensichtlich blutjunge Combo sich lieber in den Metaphern-Hausschatz des Deutschunterrichts flüchtet. Aber nein, wahrscheinlich ist das eine Generation, die unsere Horrorerfahrungen mit „abgehobener“ Sprache und Was-will-der-Dichter-uns-damit-sagen gar nicht mehr gemacht hat, die stattdessen von Lehrern terrorisiert wurde, die soziale Aussage und kritische Relevanz wollten, förderten, kitzelten, sozusagen großschrieben? Die, wenn das nicht kam, sich beleidigt in ihr Cordjackett zurückzogen?

Diese Musik verweigert sich, und zwar halb schöngeistig, halb durchtrieben. „Ich fahr ganz leis'/Ganz leis‘ immer weiter/Geradeaus/Durch den Nebel/Morgenstunde/Abendtau.“ Solch zarte Empfindungen unterlegen die Kissin‘ Cousins mit lauernden Gitarren, die unvermutet losbrüllen, und Geigenverspieltheiten (von einer Frau namens Heike Wendelin), die fuchtig werden können. Bass und Schlagzeug geben dem Ganzen etwas Dräunendes. Die Musik will nicht herzlos sein, sie inszeniert sich als stilles, aber tiefes Wasser, als jemand, den man sich trotz offenkundiger Schüchternheit lieber nicht zum Feind macht. „Verstehst du wie mir ist/Wenn Seele Körper wird/Und die Seele den Körper frißt?“ Ich kann es mir ungefähr vorstellen, wenn ich das frisch gehäutete Kaninchen auf dem Cover anschaue. Die Kissin‘ Cousins sind geheime Schüler-Brutalos, sie wollten den Wort-Idyllen, die andere gezähmt haben, die Häute abziehen. Solange, bis Blut kommt. „Die Hand wird ganz rot, sterbensrot“, ächzt Sänger Thorsten Neu. Auf dem Innencover essen sie ihn dann, den kleinen Nager. Mit Messer, Gabel und Rotwein, wie es sich gehört.

Auch aus gutem Hause kommt die Band, die sich „Ostzonensuppenwürfelmachenkrebs“ nennt: ehemalige Schüler des Blankenese-Gymnasiums, also Söhne von der Goldküste Hamburgs. Wie lange man wohl braucht, um sich so einen Gruppennamen auszudenken? Jedenfalls wurde er vor der Öffnung der Mauer ersonnen, denn die Band gibt es bereits seit einigen Jahren. Aus der Zeit nach der Öffnung der Mauer aber, so vermute ich wenigstens, stammt der Eröffnungstitel „Die Pest“: „Hei, das Jammern ist vorbei/Der Pfaff tanzt mit dem Totengräber/Brüder, Schwestern, tanzet, fresset/Schenkt den Klängen der Schalmei/Euer Hören, sauft den Wein.“ Ein Totentanz ist das, der klappernd in die Schlußstrophe zieht: „Ob Du noch was hast im Gürtel/S'soll nicht kümmern diese Nacht/S'sind gefallen alle Würfel/Legt nun an die Lebenstracht.“

Ist das der Blankaneser Kommentar zum nationalen Geschehen? Wenn ja, so kommt er aus einer Position der distinguierten Wut, die sich von Pubertät an dem Kampf gegen die kleinen Alltagsungerechtigkeiten verschrieben hat, dabei aber doch immer blankenesisch korrekt bleibt. „Gesang: Kristof Schreuf (2. Stimme) Christian Zenk (Refrain). Keyboard: Christian von Rautenkranz. Tuba: Martin Hotz. Gitarren: Alle“ Selten wurden Credits so sorgsam verteilt. Es ist, als wüßte man noch nicht so recht wohin mit dem ganzen angestauten Gerechtigkeitsempfinden. In „Are you happy?“ starrt eine Figur namens Robert aus seinem Fenster, sieht aber immer nur die Wand des Nachbarhauses: „Robert scibbled all the papers/His conspiracies and miracles/And Robert was a funny guy.“

So ähnlich hört sich auch die Musik an, gescribbelt aus verschiedenen Bausteinen: Folk, Dark Wave, Minnegesang, sozialkritischer Schlager, auch er Orff-Singspielkreis ist nie allzuweit. Ein Wust an Ideen wird schubweise verfeuert und mit seltsamen Texten unterlegt. „They saw him at the kindergarden/Murmuring something 'bout relativity.“ Muß ja ein ganz schön altkluges Kind sein. Aber so sind sie wohl, die Jungs aus dieser Suppenwürfelband: clever, verspielt und auch schon mal spitz. In „Symphonic Youth“ geht es um ein Konzert, bei dem man bis zu den Knöcheln im Bier steht, von den Umstehenden als Aschenbecher benutzt und zum Pogo genötigt wird. „But nobody tried to rape me/And the tickets were only half of my monthly pay/So noone should say/That this wasn't a lovely concert day.“

Auch OZSWMK sind irgendwie fertig mit den alten Erscheinungsformen von Vitalität und Protest. „Für Zuhause“ heißt ihre LP, und die Hülle zeigt ein Biedermeier-Ambiente mit Dackeln, Polstermöbeln und dem GUTEN BUCH, das aufgeschlagen auf dem Messingtischchen liegt. Das wirkt anklagend und bitter, aber auch zwiespältig: als wäre die Platte selbst Nachricht aus einer durch und durch reprivatisierten Welt, in der man stöbern, basteln und träumen muß, um den Kontakt mit dem echten Draußen zu wahren; da wo echte Suppenwürfel vielleicht echten Krebs machen - man weiß ja nie. Die erste Seite der LP steht übrigens im Zeichen des Jugendherbergssymbols, über der zweiten ragt eine stilisierte Skyline.

Thomas Groß

Kissin Cousins: Halbtotsicher

Ostzonensuppenwürfelmachenkrebs: Für Zuhause (beide L'Age D'Or)