: Das Ende eines Schismas
Zum Hundertsten: gemeinsame Mai-Demonstration in Berlin ■ K O M M E N T A R E
Daß ausgerechnet am 100. Maifeiertag eine gemeinsame Demonstration von Gewerkschaftern aus Ost und West zustandekommt, mag wieder einmal - wie so oft in letzter Zeit - als „historisches Datum“ vermerkt werden. Und tatsächlich hat diese Demonstration in Berlin, so wenig spektakulär sie wahrscheinlich verlaufen wird, eine historische Dimension über den aktuellen Bezug zum deutsch -deutschen Einigungsprozeß hinaus. Die Berliner Demonstration markiert das Ende des siebzigjährigen Schismas der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung - ein Ende, das durch den politischen Zusammenbruch des kommunistischen Pols innerhalb dieses Schismas ermöglicht wird. Sie markiert deshalb auch das Ende des Maifeiertages als Jubeltag zur Verherrlichung einer Parteidiktatur, das Ende einer Gewerkschaftsorganisation, die Herrschaftsinstrument gegenüber und nicht Interessenvertretung für die abhängig Beschäftigten gewesen ist.
Welcher Anfang diesem Ende folgen wird, ist ungewiß. Denn auch wenn die frühere Macht endlich zerstört ist und in den DDR-Gewerkschaften nun eilig „gewendet“ wird - die alten innerorganisatorischen Strukturen, die antidemokratischen Mentalitäten vieler Funktionäre, das bürokratische und hierarschische Organisationsverständnis sind damit noch längst nicht verschwunden. Dies gilt für den FDGB, der nun von den westdeutschen Gewerkschaften zu Recht zum Hauptschuldigen der DDR-Gewerkschftsmisere gemacht wird, genauso wie für die auf Fusion mit ihren westlichen Partnerorganisationen erpichten Einzelgewerkschaften. Und weil das so ist, wirft dieser zweifellos notwendige gewerkschaftliche Vereinigungsprozeß auch für die DGB -Gewerkschaften die Gretchenfrage nach ihrem eigenen Verhältnis zur Demokratie auf.
Das Dilemma ist offensichtlich: Einerseits gibt es im deutsch-deutschen Vereinigungsprozeß derzeit kaum eine dringlichere Aufgabe, als die sozialen Interessen der DDR -Bevölkerung artikulations- und aktionsfähig zu machen. Andererseits können die Gewerkschaften - Ost wie West keinen größeren politischen Fehler machen, als unter dem Druck dieser Aufgaben vorschnell eine gesamtdeutsche Gewerkschaftsorganisation aus dem Boden zu stampfen, die sich nicht von Grund auf erneuert hat. Und da gäbe es doch nicht nur in der DDR viel zu tun. Auch die häufig als „Kolosse auf tönernen Füßen“ oder „Tanker“ apostrophierten Gewerkschaften der Bundesrepublik müßten im Sinne demokratischer Erneuerung dringend entrümpelt werden.
Martin Kempe
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