„The show must go on“

■ Beobachtungen zur Metamorphose der SED/PDS

Reinhard Mohr

Wie groß ist denn im Augenblick die Kampfkraft der Partei, Genosse Bisky?“ fragt die Genossin aus dem Publikum. Der Angesprochene, seit Dezember 1989 Mitglied des achtköpfigen Präsidiums der PDS, spürt den Kellergeruch der traditionsreichen Formulierung und antwortet leise, aber bestimmt: „Unser Ziel ist eine neue Partei.“

Innerhalb von drei Monaten wurde aus Erich Honeckers SED die „Partei des Demokratischen Sozialismus„; sie verlor drei Viertel ihrer Mitglieder und sitzt seit dem 18.März 1990 als Opposition in der demokratisch gewählten Volkskammer. Und doch weiß auch der 48jährige Medienexperte der PDS, im „Nebenberuf“ Rektor der Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“ in Potsdam-Babelsberg, nicht genau, wie das „Neue“ aussehen soll. Die Notoperation am noch warmen Leichnam der SED, die Anfang Dezember 1989 begann, ist noch nicht abgeschlossen, und schon droht der 16-Prozent-Partei PDS der Fall in die Bedeutungslosigkeit bei den anstehenden gesamtdeutschen Wahlen. Zugleich aber dauert die Macht der Stasi-Vergangenheit an, für die die neue Führung der PDS ausdrücklich die politische Vergangenheit übernommen hat: eine historische Situation ohne Beispiel. Frecher Sponti PDS

Doch schon während des Wahlkampfes im März zeigte sich die PDS lieber als freche Sponti-Partei der Beleidigten und Unterdrückten, als ihre eigene Herrschaftsgeschichte zu betrachten. Die wenigen Ausnahmen demonstrieren die Crux der linken „Bewältigung“ des sozialistischen Großversuchs seit 1917: die ewige Wiederkehr der Utopie als Flucht aus der eigenen Vergangenheit, wobei ein großer Irrtum stets den nächstkleineren als neue Perspektive erscheinen läßt.

So fand im bunten Reigen der PDS-Veranstaltungen auch eine Premiere besonderer Art statt. Die früher allmächtige Partei lud zur Podiumsdiskussion über den „Stalinismus“. Material für die Debatte sollte die öffentliche DDR-Erstaufführung des sowjetischen Dokumentarfilms Solovki aus dem Jahre 1988 bieten. Der Ort des Geschehens bot Anschauung eigener Art: der moderne Tagungssaal des früheren Zentralkomitees der SED.

Etwa 60 Interessierte verloren sich dort, wo gut eine Woche später Tausende das gute Abschneiden der PDS feierten.

Solovki war das erste sowjetische Arbeitslager für politische Häftlinge, „die Wurzel des Gulag“, wie es im Originalkommentar heißt. Zu Lebzeiten Lenins, am 6. Juni 1923 im Gebäudekomplex eines ehemaligen Klosters gegründet, wuchs es schnell zu einem der größten „Projekte“ der stalinistischen Geheimpolizei. Dutzende von Opfern und Augenzeugen beschreiben das Grauen, „gegen das die Inquisition ein Kinderspiel war“.

Als der weltberühmte russische Dichter Maxim Gorki 1929 das Lager besuchte, wurde ihm ein Potemkinsches Sträflingsdorf errichtet. Er sah nicht die „blutige Treppe“ am Fuße des Solovki-Berges, wo gefesselte Häftlinge hinuntergestoßen wurden und als blutige Klumpen Fleisch ihr Leben ließen. Er sah nicht die menschenunwürdigen Unterkünfte, nicht die „Verpflegung“, nicht Folter. Auf das Versprechen hin, daß bei einem wohlwollenden Bericht für die Weltpresse bestimmte Gefangene freigelassen würden, sang Gorki das Lob der Sowjetmacht. Titel seiner Reportage: Unsere Errungenschaften.

Als das Licht im Saal wieder angeht, herscht einige Sekunden lang Schweigen. Während die Moderatorin in der Sitzecke des großen Podiums an die „Verzweiflung russischsprechender SED-Genossen“ erinnert, die in sowjetischen Periodika seit Jahren lesen konnten, was in der DDR bis Ende 1989 verboten war, fällt der Blick auf ein von der Decke herabhängendes, in roten Lettern bemaltes Bettlaken: „Man traut sich ja sonst nichts ... PDS.“

„War der Stalinismus im Leninismus angelegt?“ fragt die russischsprechende Moderatorin den renommierten Moskauer Parteihistoriker Wladlen Loginow erwartungsvoll. Der flüchtet zunächst in eine opake Formulierung: „Der Stalinismus ist aus dem Bolschewismus herausgewachsen und zugleich seine Negation.“ Die „außergewöhnlichen Methoden“ im russischen Bürgerkrieg, also der revolutionäre Terror, verdienten eine grundsätzlich andere Beurteilung als die Untaten Stalins ab Mitte der zwanziger Jahre. „Gewalt ist nicht Gewalt. Man darf sich nicht an Äußerlichkeiten orientieren.“ Spätjakobinische Scholastik

Die DDR-Historikerin pflichtet bei. Im Bürgerkreig sei der Terror als Kampfinstrument gegen politische Abweichungen von der revolutionären Linie erlaubt. Danach aber müsse das gesellschaftliche Leben liberalisiert werden. In diesem Sinne bedeute Perestroika die Erneuerung des Marxismus -Leninismus. Der zweite Gast aus Moskau, der Historiker Firsiv, ergänzt, daß zu Zeiten Lenins „noch streng wissenschaftlich argumentiert wurde“, während es später die bekannten „Deformationen“ gab. Allerdings gebe es - „streng wissenschaftlich betrachtet“ - ein „historisch-konkretes Verhältnis zwischen Diktatur und Demokratie“, geschichtliche Besonderheiten der russischen Revolution also, die fälschlich verabsolutiert worden seien.

Bei dieser spätjakobinischen Scholastik zwischen Tugend und Terror verlassen einige jüngere Zuhörer den traditionsreichen Saal, andere, ältere, melden sich zu Wort. Eine Dame im Pelzmantel, die in Düsseldorf das Idealbild der Ehefrau eines Sparkassen-Filialleiters abgäbe, geht ans Mikrophon und versucht, ihrem Unbehagen Ausdruck zu verleihen: „Lenin ist die Wurzel. Auch ich habe Angst, den guten alten Wladimir Iljitsch anzurühren. Aber ich bin gegen Götzenverehrung. Weshalb soll nicht auch Lenin einen Denkfehler gemacht haben?“ Die Frage bleibt im Saale hängen.

Warum Bucharin sich selbst konterrevolutionärer Aktivitäten bezichtigt habe, will ein Genosse wissen. „Er wollte die Partei retten“, antwortet Loginow. „Die eigenen Genossen haben ihn ja verhört. Unter der faschistischen Folter hätte er nie ausgesagt.“ „Aber es gibt die Pflicht zum eigenen Gewissen!“ erinnert ein anderer an Immanuel Kant. Eine Tischnachbarin meldet sich und fragt die Experten, wer denn unterscheiden könne, was der Klassenfeind und was das Volk sei. Darauf weiß auch Loginow keine streng wissenschaftliche Antwort, ist aber sicher, daß „Stalin nicht der Fortsetzer Lenins war“.

In der Sowjetunion jedenfalls habe man inzwischen „die schmutzige Wäsche abgeworfen“ und könne nun „in die Zukunft gehen, ohne zurückzublicken“. An diesem Märzabend in Ost -Berlin wurde der große Wladimir Iljitsch trotz einiger Unsicherheiten noch einmal gerettet.

Zur gleichen Zeit, ein paar Straßen weiter, werden in der Humboldt-Universität DDR-Lebensläufe gerettet, „Kaderakten“ an Ex-SED-Mitglieder ausgegeben, um ihnen Gelegenheit zu geben, sie eigenhändig von unzeitgemäßen Eintragungen zu säubern, die einem unbelasteten Start in die neue Zeit entgegenstehen könnten.

Noch vor einem Jahr, berichtet eine ehemalige Studentin, habe die Germanistikprofessorin Annie Seidel ihr spezielles Unterrichtsfach „Wissenschaftlicher Kommunismus“ als gnadenlose Waffe im Kampf gegen die geringste Äußerung eines autonomen Gedankens benutzt. Furcht und Schrecken verbreitete die universitäre Furie des zum Pflichtfach verkommenen „Marxismus-Leninismus“ auch unter renommierten Kollegen, wenn sie wie Blitz und Donnerkeil in Vorlesungen platzte und die zu intellektuellen Daumenschrauben zugerichteten Sentenzen abfragte, die ihr stalinistisches Kleinhirn für die Essenz des Weltgeistes hielt.

Wer dann nicht auf Kommando loslegen und etwa in einem Roman Volker Brauns sogleich die konterrevolutionäre Textstelle dingfest machen konnte, wurde streng diszipliniert, bekam die Macht der Partei zu spüren. Die schweigenden Kommilitonen versicherten dem Opfer nach der Vorlesung jeweils ihre tiefempfundene Solidarität und ihr Mitgefühl. Seit dem Sturz des SED-Politbüros haben sie in Scharen die Partei verlassen. Die mutige Studentin dagegen sympathisiert jetzt mit Gregor Gysis „neuer PDS“.

Eine Partei für die ganze Familie

Im Klubhaus der „Nationalen Volksarmee“ in Blankenfelde bei Potsdam hat die erneuerte Partei acht Tage vor der Volkskammerwahl ein Heimspiel. Die Baracke mitten im bewachten und eingezäunten NVA-Gelände ist proppenvoll. Unter dem Transparent „Talk im Club“ sitzen Orts- und Bezirksvorsitzende der PDS und warten auf den Spitzenkandidaten Bisky. Viele Kinder zappeln an den Tischen und essen Kuchen. Junge wie alte Männer trinken Bier, während die Frauen für Nachschub sorgen. An diesem Samstag nachmittag gehört die Familie der Partei.

„Ich bin 48 Jahre alt und habe drei Kinder - alle von derselben Frau“, fügt Bisky nach einer kleinen Pause hinzu. „Mein Amt kann jeder täglich haben, mein Parteibuch nicht.“ Diese Mischung aus Vaterstolz, ehelicher Treue und Bekenntnis zur Partei trifft die aufgeräumte Stimmung in der Klubbaracke. Der Mann aus dem PDS-Präsidium zeichnet das Bild einer neuen sozialistischen Partei, die „links, unabhängig und frei“ sein soll. Fast könnte der Eindruck entstehen, die Konkursverwalterin der alten SED beanspruche die Rolle des Mentors der demokratischen Herbstrevolution in der DDR.

Doch der Blick zurück ist nicht gefragt an diesem Nachmittag. Lieber berichten die Genossinnen und Genossen von den Aktivitäten, die in die Zukunft weisen.

Ein junger Genosse erzählt von den wöchentlichen Aufräumarbeiten im nahen Stadtwald: „Wir schlafen nicht, wir tun etwas.“ Ein altgedientes Parteimitglied hat dort seinen Glauben schon wieder gefunden: „Im Birkenwäldchen habe ich die Zukunft unseres Volkes gesehen.“

Ob bei der über 15 Kilometer führenden sonntäglichen Fahrraddemonstration „auch an die älteren Genossen“ gedacht worden sei, gibt ein anderer zu bedenken. Schwester Monika vom „Demokratischen Frauenbund Deutschlands“ (DFD), der ehemals DDR-weiten Organisation aller realsozialistischen Kaffeekränzchen unter Führung der Arbeiterklasse, fordert die Versammelten auf, „erkämpfte Rechte zu bewahren“, und verspricht gleichzeitig, die „Zusammenkünfte der aktiven Frauen ansprechender als bisher zu gestalten“.

Der nach eigener Einschätzung „letzte Genosse in der LPG“ macht darauf aufmerksam, daß Grund und Boden in der Mark Brandenburg - entgegen offizieller Lesart - häufig nicht den produzierenden Genossenschaften, sondern Erbengemeinschaften und Privatpersonen gehörten, die irgendwo in Städten der DDR lebten. In Zukunft müßten die „natürlichen Bedingungen der Landwirtschaft“ zur Grundlage des Wirtschaftens gemacht werden und nicht wie bisher Anweisungen aus dem Politbüro, das „von unserer LPG statt Milch und Butter Obst und Getreide verlangt hat“.

„Den aufrechten Gang üben. Niemals aufgeben.“ Das von der Parteizeitung abgefragte Bekenntnis des Kandidaten Bisky hat durchaus ambivalenten Charakter. Bis zum Oktober 1989, nach 26 Jahren SED-Zugehörigkeit und Loyalitätszwang gegenüber Ulbricht und Honecker, hieß es, nicht die Hoffnung auf einen anderen, „authentischen“ Sozialismus fahren zu lassen; danach galt es, das Monstrum SED in eine politische Partei zu verwandeln, die inmitten des Zusammenbruchs Handlungsfähigkeit erst wieder gewinnen mußte.

Es war ein Kampf auch zwischen Primär- und Sekundärtugenden, zwischen erneuerter Parteiloyalität und dem Willen zum radikalen Bruch mit undemokratischen Traditionen. Wie im Brennspiegel trafen in diesen Tagen geschichtliche Ereignisse und politische Biographien aufeinander. Die sich überstürzenden Veränderungen boten handelnden Subjekten zugleich die Möglichkeit „selbsttherapeutischer“ Erfahrungen als eine Art persönlicher Vergangenheitsbewältigung im Zeitraffertempo. Hiobsbotschaften aus

allen Landesteilen

Am 9. Oktober 1989, zwei Tage nach der letzten Gespensterinszenierung des 40. Jahrestages der DDR-Gründung, findet in Biskys Hochschule für Film und Fernsehen eine erregende Versammlung statt, auf der Studenten von brutal prügelnden Volkspolizisten in Potsdam berichten, die wie in Leipzig, Plauen, Dresden und Jena Demonstranten auseinandertrieben. Die Anwesenden verabschiedeten schließlich eine scharfe Resolution für die Meinungs- und Pressefreiheit. Rektor Bisky steht unter Druck. Die Studenten fordern Solidarität, das Politbüro riecht die Konterrevolution und verlangt sozialistische Diszplin. Bisky stellt - zum ersten Mal in der Geschichte der Hochschule „Konrad Wolf“ - die Vertrauensfrage und erhält einhellige Zustimmung. Der Rubikon ist überschritten. Bisky entsendet ohne offizielle Genehmigung drei Kamerateams an die Brennpunkte des Geschehens - Berlin, Leipzig und Dresden. Das daraus entstandene Filmdokument gewinnt Wochen später auf den Dokumentarfilmtagen in Leipzig die „Goldene Taube“, kurz darauf zeigt ihn das DDR-Fernsehen.

Am 4. November ist er einer der vielen Redner auf der von Künstlern initiierten Demonstration gegen die Herrschaft der SED am Ostberliner Alexanderplatz, wo über eine halbe Million Menschen rufen: „Vorschlag für den 1. Mai / die Führung zieht am Volk vorbei!“

Vier Wochen später - die Übersiedlerzahlen waren seit der Öffnung der Mauer drastisch angestiegen, die Glaubwürdigkeit der SED-Führung unter Krenz steuerte auch innerhalb der Partei einem Tiefpunkt zu - ist es schon soweit. Klaus Höpcke, noch amtierender Stellvertreter des DDR -Kulturministers, ruft Bisky an und bittet ihn, umgehend das Gebäude des Zentralkomitees aufzusuchen. Als er eintrifft, kommt ihm das versammelte Politbüro samt den 15 SED -Bezirkssekretären entgegen, Egon Krenz an der Spitze. Die Herren sind gerade zurückgetreten. Politbüro und Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands existieren nicht mehr.

„Hätte ich bloß die Ergebnisse Ihrer Jugendstudie ernst genommen!“ ruft der letzte SED-Generalsekretär dem staunenden Bisky zu und entschwindet mit den Genossen der alten Garde, von denen viele noch am selben Tag aus der Partei ausgeschlossen werden. Günter Mittag und Joachim Herrmann sitzen einen Tag später schon im Gefängnis.

Die allmächtige SED hatte keinen Kopf mehr. An seine Stelle trat ein „Arbeitsausschuß“ zur Vorbereitung des vorverlegten Parteitags, dem neben Gysi, Modrow und Berghofer auch Bisky angehörte. „Unentwegt liefen aus allen Landesteilen Hiobsbotschaften ein“, erinnert er sich. Streiks, Besetzungen und der Sturm auf die Stasi-Zentralen trugen zum Bild des Chaos bei, während die politische Notgemeinschaft im Arbeitsausschuß vor ganz neuen Herausforderungen stand: Wie zerschlägt man einen stalinistischen Apparat? Soll die Partei aufgelöst werden? Wenn nicht, was für eine Partei soll es sein? Die Mächtigen schlafen nicht

„Seit diesem Tag habe ich gelernt, mit vier Stunden Schlaf auszukommen“, erzählt Bisky, der als Vorsitzender der Redaktionskommission einen mehrheitsfähigen Bericht formulieren mußte, nachdem zuvor „hundert Leute gleichzeitig auf mich einschrien, was ich zu berücksichtigen hätte“. Er hat es geschafft und wurde als Medienexperte ins oberste Gremium der Partei gewählt, die nun SED-PDS hieß.

Wie die überwältigende Mehrheit der Delegierten war er gegen eine Parteiauflösung. Doch die öffentliche Begründung enthielt nur die halbe Wahrheit: „Ein Akt der Ehrlichkeit“ war es nur zum Teil, nicht vor der SED-Geschichte wegtauchen zu wollen, wie der neue Vorsitzende Gysi, selbst seit 22 Jahren Mitglied der Partei, seine Entscheidung erklärte. Es war auch ein Akt der praktischen Vernunft. Bei Auflösung der SED wäre das gesamte Parteivermögen verfallen.

Die neue Ehrlichkeit sollte ökonomisch abgefedert bleiben. Zwar verringerte man den Parteiapparat innerhalb von drei Monaten auf etwa 20 Prozent des früheren Umfangs, doch die Trennung von dem anfangs unüberschaubaren Wirtschaftsimperium fiel schwer. Nicht nur, weil über einen Großteil des krakenartig verstreuten und verschachtelten Besitzes keine Unterlagen existierten. Immer wieder war politischer Druck von außen nötig, um die Druckereien, Verlage, Zeitungen und andere strategische, von der SED usurpierte Besitztümer tatsächlich in „Volkseigentum“ der Belegschaften oder des Staates zu überführen.

„Hinhaltetaktik und Sicherung der Parteiinteressen standen stets im Zentrum der Politik von Modrow und Gysi“, meint Anette Leo, bis zu ihrem Parteiaustritt am 1. September 1989 zwanzig Jahre SED-Mitglied, Tochter eines Spanien -Brigadisten und antifaschistischen Widerstandskämpfers, der nach 1945 in die DDR übersiedelte. „Gysi betreut die PDS wie einen schwer angeschlagenen Mandanten. Er ist ein guter Rechtsanwalt. Auf dem Parteitag im Februar hat er gesagt: 'Wir haben mit dem Stalinismus gebrochen‘ - und das war's im wesentlichen. Die lockeren Sprüche, die die PDS jetzt von sich gibt, verdrängen eher die vierzigjährige SED -Geschichte, als sie zu reflektieren. Von Trauerarbeit ist kaum etwas zu sehen.“

Wahnsystem und Fata Morgana

Die Beschwörung der dunklen Vergangenheit, deren Einfluß auf die Verhältnisse in der DDR fortdauert, ersetzt meist die Auseinandersetzung mit ihr. Der fassungslose, auch schamvolle Blick auf die eigenen Taten und Unterlassungen macht nur zu gern dem flotten und forschen Bekenntnis zur Zukunft Platz, bei dem die zurückliegende Zeit schon wieder ganz passabel aussieht: „Meine Kolleginnen im Kindergarten würden mich nie dafür verurteilen, daß ich der alten SED angehörte“, schreibt die Leiterin des Kindergartens „Kunterbunt“ in Gera-Lusan. „Sie wissen ja, daß ich für sie und ihre Kinder einstehe und daß das auch früher schon so war.“

Auch Klaus Höpcke, von 1973 bis 1989 stellvertretender Kulturminister der DDR, vorher Redakteur des 'Neuen Deutschlands‘, jetzt Mitglied des PDS-Präsidiums, bleibt sich treu: „Ein Mann, der Literaturgeschichte gemacht hat“, wie die PDS-Zeitung treffend formuliert. Im Herbst 1965 zum Beispiel, als er einen ganzseitigen Artikel im 'Neuen Deutschland‘ verfaßte, der nicht nur das Auftrittsverbot und den Parteiausschluß Wolf Biermanns vorbereitete, sondern auch Startschuß für die Karriere in Partei und Staat war.

Auf den alljährlichen Pressekonferenzen zur Leipziger Buchmesse kommentierte er die Unterdrückung mißliebiger Autoren etwa mit der Bemerkung, „auf das politische Versagen“ folge immer „auch das ästhetische Mißlingen“. Nun also bekennt Klaus Höpcke, „der schlaudumme Korken“, der „nicht untergehn wird in diesem Sturm“ (Wolf Biermann), frank und frei, was ihm das verabscheuungswürdigste Laster sei: „Hinterhältigkeit.“ Und auf Anfrage der Parteizeitung nennt er auch sein Motto: „Artem non odit nisi ignarus“ nur ein Ignorant kann die Kunst hassen.

Erschreckender als die miesen, verbrecherischen Taten unter dem Ancien regime ist die Chuzpe, mit der die ideologischen Wahnsysteme von vierzig Jahren, die die gesellschaftliche Wirklichkeit bis in die privateste Sphäre hinein beherrschten, nun zur Fata Morgana erklärt werden, in der die Opfer als Phantomgestalten herumirren, während die Täter, auf die Prinzipien humanistischer Vernunft pochend, schon wieder kämpferisch Zukunftshoffnung verbreiten.

„Jeden Abend macht mir meine Frau wegen Höpcke die Hölle heiß“, sagt Bisky, der wie sein Wahlkampfleiter Andre Brie weiß, daß man „spätestens 1985, als die Haltung zu Gorbatschow deutlich wurde“, aus der SED hätte austreten müssen. Und jeden Morgen steht er in aller Frühe wieder auf, um sich von seinem Chauffeur, der schon vor seiner Haustür in einem alten Berliner Arbeiterviertel wartet, quer durch die Republik fahren zu lassen, wo die Erneuerung der PDS nicht selten noch in den alten Stiefeln steckt.

Auch jüngere, kritische Parteimitglieder hängen noch an theoretischen - Sicherheiten, die der Sozialismus bietet. Die theoretische Verzweiflung

am konkreten Wohlstand

„Das ist aber klar antimarxistisches Denken“, stellt Uschi vom PDS-Parteivorstand am Abendbrottisch energisch fest. Der westdeutsche Gast hatte gerade die Existenz einer historischen Gesetzmäßigkeit des gesellschaftlichen Fortschritts bezweifelt. Als er Walter Jankas Schwierigkeiten mit der Wahrheit erwähnt, meint sie, Wolfgang Harich habe Jankas „subjektiver Darstellung“ schon an einigen Stellen widersprochen, und als er von Arthur Koestlers Sonnenfinsternis zu erzählen beginnt, sagt sie, sie habe „schon davon gehört“. Gelesen hat sie den Schlüsselroman über die stalinistischen Schauprozesse jedoch so wenig wie Manes Sperbers Trilogie des 20. Jahrhunderts Wie eine Träne im Ozean. In der DDR konnten diese Werke wie viele andere nicht erscheinen. Uschi, Ende 30, kritisiert vehement die alten SED-Mitläufer und hat keinen Grund, dem untergegangenen Anachronismus der Greisendespotie eine Träne nachzuweinen. Seit ihrer Studienzeit an der Humboldt-Universität hat sie Freunde, die beim Neuen Forum und anderen Oppositionsgruppen arbeiten, und ihre 14jährige Tochter hat sich in den Sohn des Hauses verliebt, der, in politischer Opposition zur SED geboren, nun in altersgemäßer Protestemphase gegen bundesdeutsche Stahlhelmzombies wie Volker Rühe die halbe Wohnung mit PDS-Plakaten und -Devotionalien bestückt hat. Statt Mick Jagger hängt Gregor Gysi über dem Bett, das mit einer großen, roten DDR-Fahne zugedeckt ist.

Doch lieber, als über marxistisch-leninistische Geschichtsphilosophie zu streiten, beschreibt die junge Mutter ihre Wut beim Abwasch an einem Sommerabend, als „Deutschland“ im Endspiel der Fußballweltmeisterschaft 1978 gegen Argentinien mit 1:0 in Führung ging. Wie viele in ihrer Nachbarschaft jubelte sie lautstark nach dem späteren Sieg der argentinischen Fußballmannschaft über die „BRD“.

Die eher konservativen Elemente dieser „linken Identitätsfindung“ sind vor allem dafür verantwortlich, daß auch die aufgeschlossenen jungen PDS-Mitglieder - viele sind sogar neu eingetreten - die SED-Vergangenheit nicht gar so schlimm aussehen lassen wollen. Es muß irgendeinen Anknüpfungspunkt geben. Die westdeutsche Linke ist zersplittert und bis ins Groteske sektiererisch, und für den Zynismus westeuropäischer Linksintellektueller fehlt den Marxisten in der DDR die praktische Lebenserfahrung mit dem Kapitalismus: die theoretische Verzweiflung am konkreten Wohlstand, die ins „aufgeklärte falsche Bewußtsein“ (Sloterdijk) übergeht. So bleibt zunächst die Orientierung an den geläuterten Mythen des 20.Jahrhunderts: der Sozialismus mit „menschlichem Antlitz“, die anarchistisch eingefärbte Utopie von der gerechten, solidarischen, selbsttätigen Gesellschaft, auch wenn deren real existierende Gestalt im Augenblick nur als sozialökologische Marktwirtschaft denkbar ist.

„Ich stehe zu meinen Irrtümern“, sagt Lothar Bisky zum Abschied und holt aus dem Bücherschrank im alten Amtszimmer von Egon Krenz eines seiner Bücher über die geheime Verführung der kapitalistischen Unterhaltungsindustrie hervor. Titel: The show must go on.