Geht die Antarktis baden?

■ Wissenschaftler befürchten „in naher Zukunft“ Anstieg des Meeresspiegels um bis zu sechs Meter / Westliche Antarktis besonders gefährdet / Nachwehen der Eiszeit oder „hausgemachter Treibhauseffekt als Auslöser?

Gewaltige Gletscherplatten der westlichen Antarktis drohen „in naher Zukunft“ abzubrechen und ins Meer zu rutschen. In kürzester Zeit würde der Meeresspiegel um bis zu sechs (!) Meter steigen. Diese neue Horrorbotschaft verbreitete kürzlich die amerikanische „National Science Foundation“ (NSF). Die Gletscher der westlichen Antarktis, so die Wissenschaftler, seien besonders gefährdet, weil sie auf dem Meeresgrund aufliegen. Sie sind weniger stabil als die Gletscher der Arktis, die zum großen Teil auf festem Boden über dem Meeresspiegel lagern. Schon geringfügige Veränderungen in der Struktur der „marinen“ antarktischen Gletscher können sie aus dem Gleichgewicht bringen. Beginnen sie zu schmelzen, dann verlieren die dem Wasser zugekehrten Gletscherränder den Kontakt mit dem Meeresboden. Immer größere Teile des dünner werdenden Gletschers werden unterhöhlt, bis die Eisplatten ihr Gleichgewicht verlieren und abrutschen.

Bisher haben Klimaforscher lediglich gewarnt, daß die allmähliche globale Erwärmung des Planeten auch die Eiskappen der Pole zum Schmelzen bringen könnte. Das hätte eine relativ langsame Erhöhung der Meeresspiegel zur Folge. Dieses Szenario, so der NSF-Bericht jetzt, berücksichtigt nur ungenügend die komplizierten Wechselwirkungen zwischen antarktischen Gletschern, Atmosphäre und den umliegenden Ozeanen.

Nicht unbedingt ließe sich von der Lufttemperatur einfach auf die Größe der Gletscher schließen. So beeinflussen zum Beispiel die vom Südpol wirbelartig ausgehenden kalten Luftmassen das Klima der gesamten südlichen Erdhalbkugel bis in die Tropen hinein. Dies wirkt sich dann offensichtlich umgekehrt wieder auf die klimatischen Verhältnisse in der Antarktis aus. Ebenso löst das Schmelzen oder die Neuformierung antarktischer Gletscher Veränderungen in den tiefsten Regionen der Ozeane rings um den Globus aus. Bei der Formierung von neuem Eis bildet sich stark salziges kaltes Wasser auf dem Meeresgrund, das in alle tieferliegenden Becken fließt und so zur Bildung von Meeresströmungen beiträgt.

Diese Wechselwirkungen wollen die Wissenschaftler nun genauer erforschen, um sich ein Bild über die Zukunft der Gletscher machen zu können. Dafür wollen sie auch die Vergangenheit der Antarktis unter die Lupe nehmen. Bekannt ist bereits, daß es am Ende der letzten Eiszeit vor 10.000 Jahren zu einer gewaltigen Schrumpfung der Gletscher des Südpols kam. Die Eisplatten wurden instabil und rutschten ins Meer. Genau dieser Prozeß kann sich nach Ansicht der Wissenschaftler jederzeit wiederholen. Dabei ist ungewiß, ob die langsame, nacheiszeitliche, natürliche Klimaerwärmung oder der menschliche Beitrag zum Treibhauseffekt die auslösende Rolle spielt.

Jedenfalls beweisen sogenannte Eisströme, daß sich die Gletscher zur Zeit nicht in einem Gleichgewichtszustand befinden. Fünf dieser gewaltigen Ströme, die bis zu 80 Kilometer breit und 500 Kilometer lang sind, ziehen durch die Gletscher der Westantarktis ins Meer. Sie fließen mit einer Geschwindigkeit bis zu einem Kilometer im Jahr, während sich das umliegende Eis in der gleichen Zeit nur wenige Meter vorwärtsschiebt. Eisströme haben die Fähigkeit, große Mengen Eis ziemlich schnell ins Meer zu befördern. Damit tragen sie dazu bei, daß die Gletscher instabil werden.

Und wie sähe die Welt aus, wenn das ganze Antarktiseis ins Wasser purzelte? Auch darauf wissen die Forscher eine Antwort: Wahrscheinlich so wie in der letzten Zwischeneiszeit vor 125.000 Jahren. Damals war der Globus warm und der Meeresspiegel sechs Meter höher als heute.

Um diese Theorie zu belegen, wollen die Gletscherforscher jetzt tief im antarktischen Eis bohren. Anhand seiner chemischen Zusammensetzung läßt sich Gletschereis datieren. Sind die Eisplatten jünger als die letzte Zwischeneiszeit, dann wissen wir, daß unsere frühen Vorfahren bereits schon einmal, ohne eigenes Zutun, mit den weitreichenden Folgen einer globalen Klimaerwärmung leben mußten.

Das bleibt ein schwacher Trost, wenn man dem Leiter der NSF -Studie, Robert Bindschadler, von der Nasa zuhört: „Die Erhöhung des Meeresspiegels infolge des Zusammenbruchs der marinen Antarktis-Gletscher ist der wichtigste Beitrag der Gletscher zu den globalen Veränderungen, die wir im Zeitraum der nächsten Jahrzehnte oder weniger Jahrhunderte erwarten.“

Silvia Sanides